We Need To Talk About Kevin (2011)

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We Need To Talk About Kevin (2011) Filmkritik

We Need To Talk About Kevin, GB/USA 2011 • 112 Min • Regie: Lynne Ramsay • Drehbuch: Lynne Ramsay & Rory Kinnear • Mit: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell, Rock Duer, Ashley Gerasimovich, Siobhan Fallon, Alex Manette • Kamera: Seamus McGarvey • Musik: Jonny Greenwood FSK: ab 16 Jahren • Verleih: Kino Kontrovers Kinostart: 16.08.2012

 

Ein kurzer Applaus, dann verstörte Stille. Das zögerlich einsetzende Flüstern im Publikum ist von einem eindeutigen Tenor geprägt: „We Need To Talk About Kevin“, Lynne Ramsays Adaption von Lionel Shrivers gleichnamigem Roman (deutscher Titel: Wir müssen über Kevin reden), ist alles andere als leichte Kost. Schon gar nicht auf den diesjährigen Fantasy Filmfest Nights, in deren Rahmen das kontroverse Werk hierzulande erstmalig aufgeführt worden ist, und bei welchen sonst eher internationale Horrorspektakel, wie etwa der neueste Zombieklamauk aus Kuba, über die Leinwände flimmert. Das reale Grauen, das seine Nase auch in die abendlichen Nachrichten steckt, ist eben auch im gefüllten Kinosaal weitaus beklemmender als mit Macheten zerhackte Monsterleiber. Das Columbine-Massaker hat einst die gesamte Welt aus dem Schlaf gerissen – warum musste so etwas Entsetzliches geschehen, mitten in unserer behüteten, zivilisierten Gesellschaft? Auch Ramsays Film bietet auf diese Frage keine Antwort. Es ist die Geschichte der Familienmutter Eva (für ihre packende Darstellung zu Recht für den Golden Globe nominiert: Tilda Swinton), die in ihrem Leben nur einen schlimmen Fehler begangen hat: Sie wurde schwanger – mit dem Satan höchstpersönlich in ihrem Bauch – und hat mit der Geburt die Pforte zu ihrer eigenen Hölle aufgestossen.

Kevin (Rock Duer) heisst der kleine, schwarzhaarige Bub mit den durchdringenden Augen. Wenn der stolze Papa Franklin (John C. Reilly, „Der Gott des Gemetzels“) mit ihm Zeit verbringt, ist der Sohnemann artig wie ein Engel. Sobald jedoch mögliche Zeugen aus dem Blickfeld verschwunden sind, und nur Eva die Bühne betritt, beginnen Kevins Spielchen. Sein sinistres Werk. Der Junge möchte nie das tun, was seine Mutter von ihm verlangt – dafür tut er mit Vorliebe das, was sie ihm verbietet. Man könnte behaupten, das Kind sei abgrundtief böse. Nur, wer tut so etwas: von Kindern sagen, sie seien abgrundtief böse?! Klein Kevin spricht lange nicht, zumindest nicht vor seiner Mama – als Baby hat er pausenlos geschrien. Dafür macht er sich auch in späteren Jahren noch mit Freude in die Hose. Bis Eva der Geduldsfaden reisst und sie in ihrer Wut einmal handgreiflich ihm gegenüber wird. Natürlich gehört auch dieser kleine Ausbruch zum Plan des Satansbratens. Wer soll seiner überforderten Mutter denn bitte jetzt noch glauben, sie habe sich selbst unter Kontrolle; dass Kevin der wahre Unruhestifter in der Kleinfamilie sei? Niemand glaubt ihr, erst recht nicht ihr bequemlicher Ehemann. Es gäbe bestimmt Gründe, warum das Kind so auf sie reagiert. Die Geburt ihrer Tochter Celia (Ashley Gerasimovich) bringt ein wenig Freude und Ordnung in Evas Alltag zurück. Das Mädchen ist der kleine Schatz, den sie sich immer gewünscht hat. Doch dann geht alles Schlag auf Schlag: Franklin schenkt Kevin, inzwischen ein Teenager (Ezra Miller), einen Bogen und bringt ihm das Schießen bei. Der Junge ist ein Naturtalent mit der Waffe. Celias Meerschweinchen wird tot aufgefunden und sie erblindet nach Kontakt mit einer Chemikalie auf einem Auge. Eva verdächtigt Kevin; Franklin kann die Anschuldigungen seiner Frau nicht länger ertragen. Bis sich eines Tages eine grauenvolle Tragödie an Kevins Highschool ereignet…

Ramsays Film beginnt mit einer grotesken Pastaschlacht, während welcher sich die Beteiligten in blutroter Sauce wälzen. Rot, das ist die Farbe, die „We Need To Talk About Kevin“ wie ein Warnsignal durchzieht. Ähnlich wie in dem Genreklassiker „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) scheint das Schicksal Evas schon von Anfang an von der farblichen Codierung geprägt zu sein – sie kann dem Unheil nicht entfliehen, konnte es nicht verhindern: Rot die Tomatensauce, rot das Blut der Opfer, rot die Farbe, die die aufgebrachten Eltern jetzt an die Hauswand der Mutter schmieren. Anders als bei Nicolas Roegs subtilem Horrordrama folgen wir der Geschichte hier jedoch nicht linear, sondern betrachten sie in der Rückschau. „We Need To Talk About Kevin“ zeigt nach dem Auftakt Eva, wie sie Jahre nach dem Ereignis versucht, ein neues Leben zu beginnen. Vergessen wird sie den Schrecken nie, so viel ist sicher. Wie könnte sie? Es wäre zumindest ein kleiner Trost, die Hintergründe der Tat zu verstehen, einen winzigen Blick in die Seele ihres scheinbar teuflischen Sohnes zu erhaschen. Zu wissen, dass da etwas ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Das wäre wohl eine Art „Happy End“ in Ramsays harter, schonungsloser Arbeit. Ein Ausgang, den die Regisseurin uns und ihrer Protagonistin nicht einräumt – nicht einräumen kann.

Wir sehen Kevin nicht pausenlos vor dem Fernseher, vor wilden Actionstreifen oder den obligatorischen Videospielen, sitzen, er spielt keine okkulten Heavy Metal-Schallplatten rückwärts oder badet im Mondlicht in Ziegenblut – das einschlägige Klischeebild des jugendlichen Amokläufers wird nicht erfüllt. Es gibt keinen offensichtlichen Initiator, kein Motiv, für seine grausamen Handlungen, die mit Kleinigkeiten, wie der Verunstaltung des Arbeitszimmers, begonnen haben und in dem sorgfältig vorbereiteten Massaker münden. Durch Evas Augen erleben wir Kevin, und wir finden nichts in ihm, was man als Zeichen echter Liebe oder Zuneigung deuten könnte. Nur einen Moment lang, Kevin ist krank, flammt in der Frau die Hoffnung auf, der Junge verfüge doch über eine Schwachstelle, einen weichen Kern, tief in sich begraben. Dieser Film ist kein hitziges Plädoyer an die Eltern – „Passt auf eure Kinder auf, sonst erzieht ihr sie zu Monstern!“ -, sondern das Portrait einer Mutter, die ihrer (zu frühen) Verantwortung mit gemischten Gefühlen entgegengetreten und trotz aller ehrlicher Bemühungen an ihrer Bürde zerbrochen ist. Ihr innerer Kampf, ihre quälende Liebe ihrem verlorenen Sohn gegenüber, erinnert an das Ende von Roman Polanskis „Rosemary’s Baby“ (1968), wenn Mia Farrow trotz ihrer Abscheu schließlich an die Wiege ihrer Höllengeburt tritt und sie schaukelt. Trotz des Hasses, der ihr nun von allen Seiten entgegenschlägt, trotz der zerbrochenen Träume, die sie nie wird flicken können, macht sie auch weiterhin täglich Kevins Bett.

„We Need To Talk About Kevin“ ist geschmackvoll inszeniertes, brillant gespieltes, aufwühlendes Kino, das uns keine einfachen Lösungen anbietet, sondern abermals unangenehme Fragen aufwirft. Vielleicht möchte man anfangs noch über die fast putzigen Streiche des „Titelhelden“ schmunzeln – bis man letztlich feststellen muss, dass hinter diesem Schabernack kein kindlicher Spieltrieb, sondern eine unheimliche, berechnende Leere steckt…


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