Bones and All (2022) Kritik

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Bones and All, USA/ITA 2022 • 131 Min • Regie: Luca Guadagnino • Drehbuch: David Kajganich • Mit: Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, André Holland, Michael Stuhlbarg, David Gordon Green, Jessica Harper, Chloë Sevigny • Kamera: Arseni Khachaturan • Musik: Trent Reznor & Atticus Ross • FSK: ab 16 Jahren • Verleih: Warner Bros. • Kinostart: 24.11.2022 • Deutsche Website

In seinem neuen Werk „Bones and All“ erzählt Luca Guadagnino mehr über unsere Gegenwart, als es das 80er-Setting zunächst vermuten lässt. Es geht um das berühmte „fressen oder gefressen werden“, das vielleicht mehr denn je diese Zeit bestimmt. Um impulsive junge Menschen, die versuchen nach ihrem Gewissen zu handeln und manchmal über ihre Fehler stolpern. Und um die Alten, die über die Jahre gieriger werden und sich mehr nehmen, als ihnen zusteht. All das formuliert der italienische Regisseur nie explizit, aber man kann es zwischen den betörenden Bildern erkennen, wenn man nicht nur schlicht dem Plot folgt und stattdessen den Film offen auf sich wirken lässt.

Bones and All (2022) Bild 1

Zu Beginn lernen wir die 18-jährige Maren (Taylor Russell) kennen, die in einem kleinen Kaff in Virginia die High School besucht. Sie erscheint zunächst wie eine ganz normale Teenagerin, die in bescheidensten Verhältnissen mit ihrem Vater (André Holland) lebt. Die Beziehung zwischen den beiden ist liebevoll, auch wenn es Maren strikt verboten ist, abends noch Freunde zu besuchen. Sie tut es selbstverständlich dennoch. Und hier zeigt sich das Mädchen dann urplötzlich von einer anderen Seite: Als sie einer Schulkameradin fast den Finger abbeisst. Maren ist ein „Eater“, eine Kannibalin – auch wenn letzterer Begriff im Film nie fällt.

Nach der Bluttat muss sich die Kleinfamilie sofort wieder auf die Flucht begeben, es ist nicht das erste Mal. Doch bald soll der Vater seine Tochter endgültig zurücklassen. Eines morgens findet Maren das neue Heim verlassen vor. Lediglich ein Umschlag mit etwas Geld, ihre Geburtsurkunde und eine Audiokassette liegen für sie auf dem Tisch. Bestürzt macht sie sich mit den Gegenständen auf den Weg quer durch die USA, um ihre auf dem Dokument aufgeführte, verschwundene Mutter zu suchen. Während ihrer Reise trifft sie ungeahnt Gleichgesinnte – und letztlich auch einen Seelenverwandten in dem rebellischen Lee (Timothée Chalamet) …

Bones and All (2022) Bild 2

„Bones and All“ funktioniert als Roadmovie, das trotz Guadagninos Arthouse-Sensibilität ganz klar im Horrorgenre verortet ist. So frei die wunderschönen Landschafts-Panoramen auch erscheinen, der Regisseur verleiht seinem Werk immer auch ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung, das sehr gut zu dem Innenleben der gemeinsam einsamen Protagonisten passt. Ohne Frage sind Maren und Lee Serienmörder – beide sogar Babysitter-Mörder, wie wir irgendwann erfahren -, doch haben sie sich trotz ihres Bedarfs an Menschenfleisch unausgesprochen einem Kodex unterworfen. Vorlaute Rüpel landen vornehmlich auf der Speisekarte, fürsorgliche Eltern sind tabu. Dass dieser Vorsatz nicht immer aufgeht, wird in einer dramatischen Szene verdeutlicht.

Das Töten von Individuen wird als unter den gegebenen Umständen notwendiger Akt dargestellt – Lee fällt das Morden deutlich leichter als Maren, dennoch hadern beide mit ihrer Natur. Das Werk ist mit seiner Thematik durchaus provokant, schließlich gibt es für das Paar nur drei Möglichkeiten, mit seinem Hunger umzugehen: Das Beste aus den Umständen machen, Selbstmord oder aufgeben und – metaphorisch – selbst gefressen werden. Mit der Entscheidung zu Ersterem entwickelt sich „Bones and All“ zu einer morbide lebensbejahenden Geschichte, über der die gefährliche Elektrizität eines Gewitters liegt, an deren Ende aber womöglich auch ein Lichtblick zu erkennen ist.

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Die wachsende Romanze zwischen Maren und Lee wird von der Bekanntschaft anderer „Eater“ überschattet. Während eines idyllischen Lagerfeuers erzählen etwa zwei Rednecks (Michael Stuhlbarg und der Schöpfer der aktuellen „Halloween“-Trilogie, David Gordon Green, in skurrilen Rollen) von ihrer besonderen Leidenschaft: Einen Menschen komplett zu essen, mitsamt seinen Knochen – das sei der größte Genuss, der zu einer höheren Stufe führe.

Besonders hartnäckig brennt sich jedoch der alte „Eater“ Sully (Mark Rylance) im Gedächtnis ein. Der mit einer Feder am Hut auch optisch auffällige Mann drängt sich Maren bei ihrer ersten Begegnung penetrant auf, gibt ihr aber zugleich die wichtige Information mit, dass sich die besonderen Einzelgänger gegenseitig am Geruch erkennen können. Sogar auf Meilen. Oscar-Preisträger Rylance („Bridge of Spies“) legt als ziemlich unangenehme Mischung aus Forrest Gump und Ed Gein eine derart markante Performance vor, dass er sich damit glatt ein weiteres Mal bei der Academy qualifizieren könnte. Zunächst empfindet man fast etwas Mitleid mit dem vereinsamten Sonderling, bis dieser seine Trophäensammlung präsentiert und damit das bereits mulmige Gefühl verstärkt.

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Abgesehen von Rylances herausragender Leistung, ist „Bones and All“ ein Film mit eher subtilem Ansatz. Taylor Russell („Waves“) und Timothée Chalamet („Call Me by Your Name“, „Dune“) gelingt es, zwei noch unfertige und durch ihre Biografie gebrochene junge Protagonisten zu entwerfen, mit denen man trotz ihrer bestialischen Taten immer noch sympathisieren kann. Manche ihrer Dialoge sind trivial bis naiv (das Werk basiert auf dem gleichnamigen YA-Buch von Camille DeAngelis) und die Emotionen schießen gelegentlich über – Merkmale ihrer noch nicht abgeschlossenen Reife. Luca Guadagnino hält sich glücklicherweise vom Schmalz der Marke „Twilight“ fern, etwa wenn die Kamera ein schmachtendes Wiedersehen des Paares nur aus der Distanz einfängt. Was nicht bedeuten soll, dass der Film nicht auch zu Tränen rühren kann: Eine Gänsehaut erzeugt die Szene, in der sich Maren und Lee vor einem Sonnenuntergang näherkommen und ihre Körper zu den sanften Klängen des Nine Inch Nails-Duos Trent Reznor und Atticus Ross verschmelzen, durch ihre schonungslose Melancholie.

Anders als seine Landsmänner Ruggero Deodato („Cannibal Holocaust“) und Umberto Lenzi („Cannibal Ferox“) breitet der Regisseur die blutigen Mahlzeiten übrigens nicht immer explizit aus, sondern beschränkt sich bei den Morden und dem kannibalistischen Akt danach auf ausgewählte Gewaltspitzen. Ein softer Film ist „Bones and All“, vor allem zum Schluß hin, dennoch nicht. In Guadagninos zweiter Genrearbeit nach der „Suspiria“-Neuinterpretation von 2018, trifft sein dem europäischen Kino eines Bernardo Bertolucci Rechnung tragender Stil auf den rauen Ton von John McNaughtons „Henry: Portrait of a Serial Killer“ und die unheilvolle Romantik aus Kathryn Bigelows Vampir-Western „Near Dark“.

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Wie schon in „Suspiria“, in dem das geteilte Nachkriegs-Berlin wie eine Mahnung vor dem faschistischen Schrecken des im Untergrund operierenden Hexenzirkels stand, wird auch hier das zeithistorische Setting nicht bloß als Vorwand für popkulturelle Nostalgie (Songs von Joy Division und New Order sind die Ausnahme) genutzt: In Ronald Reagans erzkonservativem und die Schwachen verschlingenden Amerika scheinen die zwei jungen Außenseiter schon im Vorfeld keine Chance zu haben – dass sie es dennoch versuchen macht die Magie des Films aus.

Großes intimes Kino.


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