Die National Board of Review überrascht und prämiert A Most Violent Year

Quelle: National Board of Review

Vorgestern hat die ehrwürdige National Board of Review, eine New Yorker Organisation von Filmemachern und Filmwissenschaftlern, die seit 1928 (und damit länger als die Oscars) jährlich Preise an Filme aus dem zurückliegenden Jahr vergibt, ihre Favoriten von 2014 bekanntgegeben und der große Gewinner könnte kaum überraschender sein. J. C. Chandors dritte Regiearbeit – nach Margin Call – Der große Crash und All Is LostA Most Violent Year (deutscher Kinostart: 19.03.2015) wurde in den Kategorien "Bester Film", "Bester Hauptdarsteller" (hier zog Oscar Isaac mit Michael Keaton gleich) und "Beste Nebendarstellerin" (Jessica Chastain) ausgezeichnet. Das ist ein großer Triumph für das kleine Krimi-Drama, mit dem trotz guter Kritiken eigentlich niemand gerechnet hat. Seit 2001 wurde schon jeder einzelne Film, der bei der National Board of Review in der Königsklasse gewonnen hat, auch bei den Oscars als "Bester Film" nominiert. Überhaupt kam in der über 80 Jahre währenden Geschichte der National Board of Review gerade einmal 20 Mal vor, dass der Gewinner von der Academy nicht zumindest nominiert wurde. Quills – Macht der Besessenheit war die letzte solche Ausnahme.

Die National Board of Review spielt häufig die Rolle des Vorreiters im Oscar-Rennen und erinnert die Leute an einige Filme, mit denen nicht mehr wirklich gerechnet wurde. So überraschte die National Board of Review auch letztes Jahr, als anstelle des frühen Favorits 12 Years a Slave Spike Jonzes Her ausgezeichnet wurde, der danach noch viele Kritikerpreise abgeräumt hat. Noch auffälliger war die Rolle der National Board of Review 2006, als sie als eine der wenigen Organisationen Clint Eastwoods Letters from Iwo Jima ausgezeichnet hat, der sich am Ende bei den Oscarnominierungen überraschend gegen Dreamgirls durchsetzen konnte. Als Prädiktor für die Oscarsiege ist die NBR jedoch deutlich schlechter. Nur zwei NBR-Gewinner haben seit 2000 auch den Hauptpreis bei den Oscars gewonnen – No Country for Old Men und Slumdog Millionär. Doch es rechnet ja auch niemand damit, dass A Most Violent Year ein ernsthafter Kandidat für den Sieg bei den Oscars sein wird. Auch eine Nominierung wäre ein großer Erfolg und diese erscheint nach der NBR-Auszeichnung nicht mehr unwahrscheinlich.

ANZEIGE

Es gab zwischen der National Board of Review und dem New York Film Critics Circle dieses Jahr keinerlei Übereinstimmung, was daran liegt, dass die NBR einige wirklich unkonventionelle Entscheidungen  getroffen hat. Die komplette Liste der diesjährigen Gewinner findet Ihr unten:

Bester Film

A Most Violent Year

Top 10 Filme des Jahres (alphabetische Reihenfolge)

Birdman
Boyhood
Gone Girl
Herz aus Stahl
The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben
Inherent Vice – Natürliche Mängel
The LEGO Movie
Nightcrawler
Der Scharfschütze
Unbroken

Beste Regie

Clint Eastwood (Der Scharfschütze)

Bester Hauptdarsteller

Oscar Isaac (A Most Violent Year) UND Michael Keaton (Birdman)

Beste Hauptdarstellerin

Julianne Moore (Still Alice)

Bester Nebendarsteller

Edward Norton (Birdman)

Beste Nebendarstellerin

Jessica Chastain (A Most Violent Year)

Bestes Ensemble

Herz aus Stahl

Bestes Originaldrehbuch

Phil Lord und Christopher Miller (The LEGO Movie)

Bestes adaptiertes Drehbuch

Paul Thomas Anderson (Inherent Vice – Natürliche Mängel)

Bester Animationsfilm

Drachenzähmen leicht gemacht 2

Bester Dokumentarfilm

Life Itself

Bester fremdsprachiger Film

Wild Tales – Jeder dreht mal durch!

Top 5 Dokumentarfilme des Jahres (alphabetische Reihenfolge)

Art and Craft
Jodorowsky’s Dune
Keep On Keepin' On
The Kill Team
Last Days in Vietnam

Top 5 fremdsprachige Filme des Jahres (alphabetische Reihenfolge)

Gett: The Trial of Vivian Amsalem
Höhere Gewalt
Leviathan
We Are the Best!
Zwei Tage, eine Nacht

NBR Freedom of Expression Award

Rosewater
Selma

Beste Durchbruchs-Performance

Jack O’Connell (Mauern der Gewalt, Unbroken)

Bestes Regiedebüt

Gillian Robespierre (Obvious Child)

William K. Everson Award für Filmgeschichte

Scott Eyman

Spotlight Award

Chris Rock für das Drehbuch, Regie und Schauspiel in Top Five

Top 10 Independent-Filme des Jahres (alphabetische Reihenfolge)

Blue Ruin
Mauern der Gewalt
A Most Wanted Man
Mr. Turner – Meister des Lichts
No Turning Back
Obvious Child
The Skeleton Twins
Snowpiercer
Stand Clear of the Closing Doors
Still Alice

____________________________________________________________________________

Es ist in der Tat eine sehr ungewöhnliche Auswahl an Siegern. Besonders schockierend ist es, dass der grandiose Sundance-Sieger Whiplash nicht einmal auf der Liste der besten Independent-Filme zu finden ist. Auch das komplette Fehlen von Die Entdeckung der Unendlichkeit, Foxcatcher, Interstellar und Into the Woods (letzterer könnte mangels einer rechtzeitigen Sichtung sein) überrascht, insbesondere da Nightcrawler und vor allem Herz aus Stahl es geschafft haben. Der Ensemble-Preis für Herz aus Stahl überrascht bestimmt auch einige, doch es ist eine Kategorie, in der die NBR gerne unkonventionelle Wege geht. In Vergangenheit wurden hier beispielsweise Wenn Liebe so einfach wäre und The Town – Stadt ohne Gnade ausgezeichnet. Dass Clint Eastwood für Der Scharfschütze gewonnen hat, ist angesichts der Vorgeschichte der National Board of Review hingegen wenig überraschend. Seit 2003 wurden Eastwood und seine Filme überzufällig häufig von der NBR mit einer Auszeichnung bedacht. So gewannen Eastwoods Mystic River und Letters from Iwo Jima 2003 und 2006 hier als "Bester Film", Eastwood gewann für Gran Torino 2008 als "Bester Hauptdarsteller" und ein Jahr später für Invictus als "Bester Regisseur". Außerdem schafften es auch seine Filme wie Flags of our Fathers, Million Dollar Baby, Der fremde Sohn, Hereafter und J. Edgar in die Jahres-Top-10 der NBR und das obwohl gerade die letzten beiden insgesamt von der Kritik eher verrissen wurden. Ich denke Eastwoods Sieg hier macht ihn trotzdem nicht wirklich zu einem Oscarkandidaten.

Dafür sollten die Gewinner der Schauspielkategorien Keaton, Moore, Norton und Chastain auf jeden Fall zu den absoluten Favoriten in ihren Kategorien gehören und bei allen vier erscheint eine Oscarnominierung als extrem wahrscheinlich. Lediglich Oscar Isaac wird sich wohl gegen die harte Konkurrenz nicht durchsetzen können.

Eine wirklich inspirierte und coole Wahl ist The LEGO Movie für sein Drehbuch und als einer der besten Filme des Jahres. Gleichzeitig verstehe ich aber nicht, wie er dann in der Kategorie "Bester Animationsfilm" trotzdem gegen Drachenzähmen leicht gemacht 2 verlieren konnte. Mich persönlich freut außerdem sehr die Erwähnung des grandiosen Indie-Thrillers Blue Ruin, den ich beim Fantasy Filmfest gesehen habe.

Die Oscar-Saison läuft sich warm, doch ab der kommenden Woche geht es mit den Nominierungen der Schauspielergewerkschaft Screen Actors Guild und den Nominierungen für die Golden Globes so richtig los.

Weitere Film- und Serien-News

Mehr zum Thema