Wir (2019) Kritik

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Us, USA 2019 • 116 Min • Regie & Drehbuch: Jordan Peele • Mit: Lupita Nyong’o, Winston Duke, Shahadi Wright Joseph, Evan Alex, Elisabeth Moss, Tim Heidecker, Yahya Abdul-Mateen II, Anna Diop • Kamera: Mike Gioulakis • Musik: Michael Abels • FSK: ab 16 Jahren • Verleih: Universal Pictures • Kinostart: 21.03.2019 • Deutsche Website

Es lohnt sich, Jordan Peeles („Get Out“) neue Regiearbeit „Wir“ direkt von Beginn mit zwei wachen Augen zu verfolgen. Nach einem kryptischen Text über mysteriöse Tunnel unterhalb der USA, führt uns der Oscarpreisträger mit Comedy-Wurzeln in das Wohnzimmer der jungen Adelaide. Es ist das Jahr 1986 und im Regal stapeln sich VHS-Kassetten (u.a. „C.H.U.D.“) während im TV ein „Hands Across America“-Spot übertragen wird. Tatsächlich ist es kein Zufall, dass hier in derselben Bildeinstellung ein B-Kultfilm über blutrünstige Kreaturen, die in den Abwasserkanälen hausen, und ein populäres Benefiz-Event referiert werden. Aus diesen und anderen pop- wie soziokulturellen Elementen fügt sich in „Wir“ nach und nach ein groteskes Porträt des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten zusammen, in dem das Versprechen von Freiheit und Gleichheit ausdrücklich nicht für alle gilt. Peele macht klar: Er liebt das Horrorgenre aus vollstem Fan-Herzen, möchte aber auch mit seiner neuen Geschichte zugleich entsetzen und einen Blick hinter die saubere Fassade der amerikanischen Gesellschaft werfen.

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Ein Ausflug an den Strand von Santa Cruz ist es, der dem Mädchen Adelaide zusetzt und ihr noch Jahrzehnte später als erwachsene Frau (Lupita Nyong’o) nachhängt. Was sich im dortigen Spiegellabyrinth wirklich zugetragen hat, ist weder ihrem arglosen Ehemann Gabe (Winston Duke) noch ihren beiden Kindern Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex) bekannt. Adelaide lebt in ständiger Unruhe und scheint vor irgendetwas auf der Flucht zu sein. Als sich Gabe mit einem Kurzurlaub in Santa Cruz durchsetzt, soll es nicht lange dauern, bis sich die schlimmsten Albträume seiner Frau in Fleisch und Blut manifestieren. Erst sind es kleine Ereignisse, die in Adelaide die unangenehmen Erinnerungen aufkeimen lassen. Doch dann stehen nachts auf einmal vier Gestalten in knallroten Overalls in der dunklen Einfahrt. Eine Familie. Die Situation eskaliert, und plötzlich sitzen die Urlauber ihren verzerrten Doppelgängern gegenüber – ein gnadenloser Kampf um Leben und Tod entbrennt …

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Einen guten Horrorfilm zu inszenieren, ist eine Kunst. Einen guten Horrorfilm zu inszenieren, der auch noch die breite Zuschauermasse mitnimmt, ist eine Rarität. Und einen guten Horrorfilm mit kommerziellem Anspruch und gleichzeitig smartem Unterbau zu inszenieren, ist ein Spagat. Mit seiner erst zweiten Regiearbeit kristallisiert sich „Key & Peele“-Star Jordan Peele bereits als neuer Meister des grausigen Genres heraus, dem besagter Spagat mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit gelingt. Wie bei „Alice im Wunderland“ führt er das Publikum immer tiefer in seinen ganz eigenen Kaninchenbau, in dem etwas Furchterregendes bereits lange gärt und nun den verbitterten Aufschrei wagt. Prophetisch heißt es in dem im Verlauf oft zitierten Bibelvers Jeremia 11:11: „Darum siehe, spricht der Herr, ich will ein Unglück über sie gehen lassen, dem sie nicht sollen entgehen mögen; und wenn sie zu mir schreien, will ich sie nicht hören.“ Ganz wie bei „Get Out“ liegt dem Regisseur und Drehbuchautor allerdings nichts ferner, als sein Thema von der hohen Kanzel und mit erhobenem Zeigefinger auf die Zuschauer herab zu predigen. Noch mehr als bei seinem Vorgänger wagt sich Peele an den Genre-Baukasten und setzt altbekannte Versatzstücke und Klischees (u.a. aus „Der weisse Hai“, „Funny Games“, „Die Körperfresser kommen“ und vielen anderen) geschickt ein, um sowohl den Klassikern zu huldigen als auch zu täuschen und überraschen. Hier könnte er bald Quentin Tarantino seinen Rang als Regie-Rockstar ablaufen, der ebenfalls manisch aus vergangenen B- bis C-Filmen samplet und daraus interessante Geschichten für ein modernes Publikum zu basteln versteht.

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Was „Wir“ auf inszenatorischer Ebene zu einem viszeral noch packenderen Triumphzug als den bereits erstklassigen „Get Out“ werden lässt, ist sein Wagnis, den verschachtelten Inhalt in einem geradezu atemlosen Tempo vorzutragen. Peele sitzt fest in seinem Sattel und jongliert während des wilden Rodeos noch mit Spaß und Schrecken, ohne einen der Bälle jemals aus den Händen zu verlieren. Dazu gehört auch, dass er die richtigen Leute mit auf die Reise genommen hat: Komponist Michael Abels ist erneut mit an Bord und sorgt mit einem Gänsehaut erzeugenden Score dafür, dass eine mit einem Augenzwinkern begonnene Szene urplötzlich in schieren Terror umschlägt. Und mit Lupita Nyong’o („12 Years a Slave“) könnte eine frische Horror-Queen auf dem Weg sein, die nicht durch hysterisches Kreischen, sondern eine komplizierte Doppelrolle im Gedächtnis haften bleibt, welche ihr hoffentlich eine erneute Teilnahme bei der nächsten Oscar-Zeremonie sichern wird. Die erste Konfrontation ihrer beiden Figuren lässt das Blut in den Adern gefrieren und stellt den absoluten Höhepunkt in einem tadellosen Filmerlebnis dar. Im krassen Gegensatz steht der von Winston Duke („Black Panther“) verkörperte Gabe, der als ständig um lockere Sprüche bemühtes Familienoberhaupt letztlich von seiner toughen und vorausdenkenden Frau in seine Schranken verwiesen wird. In den Nebenrollen glänzen außerdem Elisabeth Moss („The Handmaid’s Tale“) und Comedian Tim Heidecker als Köpfe einer Snob-Familie, deren dekadent-überhebliches Verhalten sich wie ein Negativ zu ihren zurückhaltenden Freunden darstellt. Es sind unüberlegte Kommentare und kleine Sticheleien, die die empfindliche Diskrepanz zwischen Mittelschicht und gehobener Mittelschicht verdeutlichen und einem wesentlich ernsteren Klassenkampf wie ein Omen vorauseilen.

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„Wir“ geht als blutig-anarchisches Adrenalinkino durch, hinter dem jedoch deutlich mehr steckt, als ein oberflächlicher Blick hergeben könnte. Es ist ein Film, über dessen Feinheiten man noch lange nach dem Anschauen nachdenken wird und der Anlass für Diskussionen bietet (ähnlich wie der von Peele als eine Referenz genannte „Martyrs“). Was als geheimnisvolle Home Invasion beginnt, weitet sich rasch auf ein ungeahntes Spektrum aus, das überspitzt zu ganz aktuellen Gesellschaftsthemen führt. Mit Newcomern wie Jordan Peele, Robert Eggers („The Witch“, bald „The Lighthouse“) und Ari Aster („Hereditary – Das Vermächtnis“, bald „Midsommar“) ist ein neues Goldenes Zeitalter des intelligenten Horrorfilms angebrochen und diese unverbrauchten Talente haben das Zeug, Legenden wie Carpenter, Craven, Romero und Hooper in Zukunft zu beerben.


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