Über die Hälfte meiner Zeit auf dem Filmfest Hamburg ist bereits rum und ich dachte, mein Festival-Highlight mit Dark Night bereit erwischt zu haben. Auch nach Tag 5 sagt der Kopf weiterhin, dass Tim Suttons beklemmendes Gesellschaftsdrama den obersten Platz auf dem Podest verdient hat, mein Herz pochte dafür heute für zwei Filme, von denen einer trotz Makeln in den ersten zwei Dritteln zunehmend in das große, rote Organ in der Mitte meiner Brust stach und sich neben dem Titel "Sieger des Herzens" nach etwas Überlegung und Ergründung meiner Gefühle auch mein neues Highlight auf dem Filmfest Hamburg 2016 nennen kann. Zwischendurch wurde ich auch noch für einen Dreh der lokalen Filmuni eingeladen und konnte in einem kurzen inszenierten Interview etwas zu Paul Verhoevens Elle sagen. Aber Elle ist so Tag 1, heute geht es um:
Tag 5
Ehrlichkeit ist schmerzhaft, aber rein. Youngsoo (Kim Joohyuck) erfährt von Gerüchten, die besagen, dass seine Freundin Minjung (Lee Youyoung), die gerne mal etwas tiefer ins Glas schaut, sich in einer Bar betrunken und gepöbelt haben. Als er sie am Abend im gemeinsamen Bett damit konfrontiert, blockt sie das Gespräch ab, wirft ihm mangelndes Vertrauen vor und zieht ab. Die Beziehung brauche eine Pause. Kurz darauf sehen wir eine Frau, die so aussieht wie Minjung, sie vielleicht sogar ist, in einer Bar sitzen. Sie wird fortan von mehreren Männern angesprochen, schlussendlich auch wieder von Youngsoo, doch gibt sie vor, ihre Verehrer nicht zu kennen. Und das, obwohl sie fest der Überzeugung sind, sie schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht aber sind sie es, die Minjung nicht kennen, auch Youngsoo nicht, dessen Bild von seiner Freundin sich durch Gerüchte formen lässt. Yourself and Yours beschreibt gleichzeitig die einseitige Unsicherheit eines Beziehungspartners, die verwirrende Verunsicherung, die sich aus Quellen ergibt, deren Informationen ironischerweise Sicherheit in Form von Wissen über andere Personen suggerieren und die nach außen gekehrte Gefühlswelt einer missverstandenen Frau, die zu sich selbst erst dadurch zu ihrer Umgebung findet.
Dieser Prozess, die ehrliche Besinnung auf die eigenen Gefühlen, ist mit Schmerz verbunden, weil die Angst vor dem Unwissen überwunden werden muss, die Gefühle von Konventionen freigemacht werden müssen, damit die Emotionen rein sein können. Das klingt bedrückender, als es ist. Regisseur Hong Sang-soo findet sogar äußerst gefühlvolle und komische Bilder für sein leichtfüßiges Drama. Im Kontrast von Ehrlichkeit und konventionsgezügelter Gesellschaft braut sich reichlich Situationskomik zusammen. Als Eventuell-Minjung mit einem ihrer Verehrer unterwegs ist, lässt sie ihn auf einmal fallen. "Ich habe keine Lust mehr", sagt sie plötzlich und selbstbestimmt. Hong Sang-soo vergisst nicht, auch die entrüstete Frustration des Zurückgelassenen einzufangen. Ein Kollateralschaden, aber ein angerichteter Schaden, auf dem ehrlichen Weg zum eigenen Glück. 3,5/5
Einfach das Ende der Welt scheint autobiographische Züge von Jean-Luc Lagarce, dem Autor des Theaterstücks "Juste la fin du monde", aus dem Xavier Dolan (Mommy) seinen neuesten Film erschuf, aufzuweisen. Wie die Hauptfigur seines Stückes Louis (Gaspard Ulliel); ging der mit nur 38 verstorbene französische Dramatiker bewusst auf das Sterbebett zu und musste wie er seiner Familie von seinem anstehenden Tod erzählen. Zwölf Jahre lang hat Louis nur Karten an seine Familie geschickt. Als wir den gefeierten Theater-Autor kennenlernen, ist er gerade auf dem Weg, um sie wiederzusehen. Ab dem Moment, als Louis' Taxi vor die Haustür rollt, kochen die Emotionen im Hause Knipper. Die Mutter (Nathalie Baye) freut sich auf ihren Sohn, macht sich gerade noch schick für ihn, doch unter dem Makeup sitzen Sorgenfalten, Suzanne (Léa Seydoux) kennt ihren großen Bruder gar nicht richtig, Antoine (Vincent Cassel) ist aufgeladen mit durchdringender Aggression und Frust, seine Frau Catherine (Marion Cotillard) sein Kontrastprogramm. Die Uhr tickt, das Essen wird serviert, die Emotionen brodeln und die Bombe ist scharf.
Das Drama ist groß. Xavier Dolan inszeniert ein kraftvolles Erdbeben aus Emotionen mit anschließendem Tsunami. Es wird viel geredet, viel geschrien und gemeckert, aber eigentlich fehlen allen die Worte. Durch ein fast ausschließlich auf Close-Ups begrenztes Bild-Vokabular trennt Dolan seine Charaktere visuell, obwohl sie in dem 95-minütigen Kammerspiel beinahe die ganze Zeit aufeinandersitzen und aneinander vorbeireden. Louis mitten im Tornado der 12 angestauten Gefühle, die keiner in Worte fassen kann. Von der Mutter angehalten, Harmonie zum Wohle der anderen zu suggerieren, durch seine Schwester an ein Gefühl von Schuld und Ausweglosigkeit gebunden und von der aggressiven, rauen Art von Bruder Antoine zum Freilegen des Kerns gedrängt. Jeder Blick, jede Schweißperle auf seiner Stirn und jedes losgelöste Staubkorn, das sich in der Luft verteilt, als Louis über seine alte Matratze streicht, manifestiert sich in seinen endlos blauen Augen als pure Hoffnungslosigkeit. Er erinnert sich an die Zeiten in seinem Jugendzimmer, Catherine sucht ihn auf und fragt: "Wie lange noch?" "Wie lange noch was?", antwortet er. 4/5
Bisherige Ausgaben:
Tag 1 (Elle, Per Song)
Tag 2 (Diamant Noir, The Sociologist And The Bear Cub, The Ornithologist, Dark Night)
Tag 3 (The Woman Who Left, Weiner, Die rote Schildkröte)
Tag 4 (Hortensia, Personal Shopper)




Ich und Wes Anderson (
In Olivier Assayas' (Die Wolken von Sils Maria) Personal Shopper ist alles ein Geist. Maureen (Kristen Stewart) ist, wie ihr kürzlich verstorbener Zwillingsbruder, ein Medium. In ihrem alten Haus versucht sie, ein Zeichen von ihm aus dem, was auch immer nach dem Tod kommt, zu erhalten, wie er es versprochen hatte. Selbst die Kamera scheint eine Art Geist zu sein, so wie sie schwerelos in langen Trackingshots durch das unheimliche Haus schwebt. Es ist faszinierend, wie Assayas den Dingen um seine Protagonistin herum zunehmend einen spirituellen Schleier überwirft, aber auch so frustrierend, mit welch konventionellen Auflösungen er seinen Film auf gewisse Weise entmystifiziert. Auf der Suche nach einer spürbaren Verbindung zu ihrem toten Bruder begegnet Maureen im Spukhaus ein tatsächlicher Geist und eine Tasse schwebt buchstäblich von Geisterhand getragen durch die Gegend. Uninspiriert wirkt auch der im Kern interessante Ansatz, Maureens sich entfaltende Seite, die sich vom Verbotenen angezogen fühlt, als Geist zu interpretieren, mit dem sie fortan im iMessage-Zwiegespräch ist – das Internet ist natürlich auch ein Geist. Denn bis auf die zittrigen Finger der groß aufspielenden Kristen Stewart, die beim Tippen auf der Smartphone-Tastatur mehr Aussagekraft besitzen als jede Nachricht, die wir mitlesen, findet Assayas keinen originellen Weg, den knapp 30 Minuten langen stummen Dialog in anregende Bilder zu verpacken. Der nette Desktop-Horror-Flick Unkown User bewies letztes Jahr, dass dies auch in einer visuell monotonen Umgebung möglich ist. Dort löschte die Protagonistin beispielsweise noch nicht abgesendete Nachrichten und ließ uns auf ungezwungene Weise etwas über ihr Innenleben erfahren, ohne dass ein Wort gesprochen werden musste.

Eine halbe Stunde weniger Schlaf und der erste Film an meinem 3. Tag auf dem Filmfest Hamburg wäre länger gewesen, als ich geschlafen hätte. Wenn Lav Diaz für seine Verhältnisse kurze Filme dreht, sind auch diese noch um die vier Stunden lang. So auch The Woman Who Left. Trotz besonderer Lauflänge ist der neueste Film des philippinischen Regisseurs im Gegensatz zu seinen anderen Werken nicht besonders unkonventionell erzählt. Klar strukturiert baut er in seinen typisch langgehaltenen, statischen Schwarzweiß-Bildern die Rache-Agenda der Protagonistin Horacia (Charo Santos-Concio) auf. Diese war 30 Jahre lang wegen Mordes inhaftiert, bis neue Beweise ihre Unschuld belegen und sie aus dem Gefängnis, das eher wie ein menschenverachtendes Arbeitslager wirkt, freigelassen wird. Zudem findet sie heraus, wer der eigentliche Täter und damit Verantwortliche für ihre 30 Jahre hinter Gittern ist. Sie schwört, Rache an dem reichen Rodrigo Trinidad zu nehmen.
Eigentlich wollten Josh Kriegman und Elyse Steinberg dokumentieren, wie der aufmüpfige Politiker Anthony Weiner nach seinem verheerenden Twitter-Skandal 2011, wo er ein Unterwäsche-Bild von sich postete, als Bürgermeister-Kandidat in New York City sein Comeback feiert. Nach wiederholten Entschuldigungen und Versprechen für die Zukunft scheint er sich schon auf der Siegesstraße zu befinden, bei den Umfragen führt er. Die Leute lieben ihn, bis ein erneuter Sex-Skandal ihn von den Wolken schubst. Denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.

Augen und Hände stehen im Fokus von Arthur Hararis Rache-Drama. Sie sind die wichtigsten Werkzeuge eines Diamantenschleifers. Die Diamantenschleifer wiederum die wichtigsten der Diamantenhändler. Diamanten – um den Namen dieses besonderen und besonders wertvollen Edelsteins noch einmal wirken zu lassen – sind das Geschäft von Piers (Buillaume Verdier) Familie, mit der er wenig zu tun hat. Auch von seinem Vater scheint er sich distanziert zu haben, der vor Jahren seine Hand im Familienbetrieb als Diamantenschleifer verlor. Die Nachricht über seinen Tod löst bei Pier, der inzwischen als Einbrecher unterwegs ist, lang zurückgehaltene Emotionen aus. Während Pier stark vermutet, dass die Verstümmelung seines Vaters damals kein Unfall war und er Onkel Joseph (Hans-Peter Cloos) und Cousin Gabi (August Diehl) als Schuldige anvisiert, deutet der Film mit dem Finger auf den wahren Täter: den Kapitalismus.
Wie gestern in Per Song verschmolzen auch im heutigen 70-Minüter Fiktion und Realität. Unter dem Zeichen des rechtlichen Diskurses über die homosexuelle Ehe in Frankreich begleitet der junge Dokumentarfilmer Mathias Théry die polarisierende Debatte und verbindet dabei dokumentarische Aufarbeitung mit humoristischem Puppentheater. Seine Mutter, die Soziologin Irene Théry, wurde für in ein Expertenteam geholt, das die Regierung aus verschiedenen Standpunkten in der kontroversen Frage beraten soll. Die Telefonate mit ihr, Ausschnitte aus Reden und Interviews visualisiert Mathias Théry mit Kuscheltieren, kreativen Spielereien und einem mit dieser stilistischen Entscheidung einhergehenden Meta-Kommentar.
Der Score kündigt unheilvolles an, als der Ornithologe Fernando (Paul Hamy) in seinem Kanu einen Fluss hinunterfährt. Doch nicht die Natur ist es, die sein Opfer gierig in die Arme schließt, es sind die Menschen, die als Fremdkörper in die Natur eindringen. Sie bringen ihre erfundenen Religionen und Götter mit, während sie die wahre Religion, die Natur, buchstäblich mit Füßen zertreten. Regisseur João Pedro Rodrigues ist selbst Ornithologe und verarbeitet mit The Ornithologist seine Selbstfindung und Besinnung zur Natur.
"I could have called it Elephant 3", sagte Regisseur Tim Sutton im anschließenden Q&A an seine Aufarbeitung des Amoklaufs in Colorado 2012, bei dem der 24-jährige James Holmes eine Vorstellung von 
Dass in jedem Mensch ein Monster schlummert, ist eine These, so alt wie die Menschheit selbst. Paul Verhoevens (RoboCop) Film weiß diese jedoch als Nährboden für tiefergehende Gesellschaftsforschung zu nutzen. Am ehesten lässt sich sein Drama um das Opfer einer Vergewaltigung, so seltsam das auch klingen mag, mit dem diesjährigen Cannes-Lieblings Toni Erdmann vergleichen. Stilistisch scheinen beide Filme unaufwendig, scheinbar unambitioniert inszeniert zu sein, befreien ihre Geschichten dadurch jedoch von fiktionalisierendem Ballast, um ein unverzerrtes und realistisches Bild zu erlauben. Der Dramatik wird eine schockierende Authentizität eingeflößt, Gefühlsausbrüche in unangenehmer Apathie erstickt. Momente nachdem Michelle (großartig: Isabelle Huppert) in ihrem eigenen Haus vergewaltigt wurde, beseitigt sie mit kühler Miene die Spuren der brutalen Tat, als würde sie die Scherben ihrer zersplitterten Seele mit einer unglaublichen Selbstbeherrschung zusammensuchen. Michelle ist fortan nicht sichtbar gezeichnet von dem Vorfall, optisch ziert nur Veilchen ihr Gesicht, vor ihren Freunden erwähnt sie nichts und zur Polizei geht sie schon gar nicht.









