Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes, Venedig und Berlin (Berlinale) sind die renommiertesten Filmfestivals der Welt, deren Preise einen wichtigen Kontrast zu den US- und UK-lastigen Oscars bilden. Allein schon ausgewählt zu werden, um im Wettbewerb eines dieser altehrwürdigen Festivals laufen zu dürfen, ist bereits eine große Ehre für jeden Filmemacher und jede Filmemacherin. Von einem der drei Festivals mit dem jeweiligen Hauptpreis prämiert zu werden ist ein Triumph, der nur den wenigsten Filmschaffenden je zuteilwird. Die Hauptpreise aller drei Festivals – die Goldene Palme von Cannes, den Goldenen Löwen von Venedig und den Goldenen Bären der Berlinale – im Laufe einer Karriere zu gewinnen, ist etwas, was vor diesem Jahr lediglich drei Filmemachern gelang ist: Henri-Georges Clouzot, Michelangelo Antonioni und Robert Altman. Ironischerweise haben alle drei nie einen kompetitiven Oscar gewonnen, wobei Antonioni und Altman jeweils mit einem Ehren-Oscar für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.
Seit gestern gehört diesem exklusiven Club ein vierter Filmemacher an. Bei der Preisverleihung der 78. Filmfestspiele von Cannes wurde der iranische Regisseur Jafar Panahi für sein im Geheimen gedrehtes Drama It Was Just an Accident mit der Palme d’Or gekrönt. Zuvor gewann Panahi 2000 mit Der Kreis den Goldenen Löwen und 2015 mit Taxi den Goldenen Bären.
In It Was Just an Accident erleidet ein Mann mit seiner schwangeren Ehefrau eine Panne, nachdem er bei einer Nachtfahrt einen Hund anfährt. Mit seinem Auto schafft er es gerade noch zu einer Autowerkstatt, dessen Besitzer glaubt, in ihm den Mann erkannt zu haben, der ihn im Gefängnis gefoltert hat. Während ihn Zweifel plagen, ob er wirklich den Richtigen hat, hadert er mit der Entscheidung, Rache an ihm zu üben.
Es ist erst die zweite Goldene Palme nach Abbas Kiarostamis Der Geschmack der Kirsche von 1997, die an einen iranischen Filmemacher ging, doch die Freude der iranischen Regierung über die Auszeichnung hält sich in Grenzen. Als vehementer Regimekritiker steht Panahi seit Jahrzehnten im Visier der iranischen Regierung. Seit 2000 wurden alle seine Filme in Iran noch vor ihrer Veröffentlichung verboten, die letzten sechs drehte er illegal, nachdem er 2010 ein 20-jähriges Berufsverbot gegen ihn verhängt wurde. Panahi wurde mehrmals inhaftiert, stand jahrelang unter Hausarrest und durfte 14 Jahre lang Iran nicht verlassen.
Die Goldene Palme für It Was Just an Accident ist nur eine Auszeichnung für den Film, sondern sicherlich auch ein politisches Statement seitens der Jury. Erst letztes Jahr wurde Die Saat des heiligen Feigenbaums von Panahis im Exil lebenden guten Freund Mohammad Rasoulof mit dem Sonderpreis der Jury in Cannes prämiert und später als Deutschlands Einreichung für den Oscar als bester internationaler Film nominiert.
It Was Just an Accident wird von Iran sicherlich nicht als Oscar-Beitrag eingereicht werden. Frankreich und Luxemburg haben als Co-Produktionsländer die Chance, den Film einzureichen, da beide jedoch traditionell Filme heimischer Regisseure vorziehen, ist es eher unwahrscheinlich. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass das Indie-Label NEON, das sich die US-amerikanischen Vertriebsrechte an It Was Just an Accident sicherte, eine Kampagne für den Film in anderen Oscarkategorien aufziehen wird. Mit It Was Just an Accident hat NEON die US-Rechte am sechsten Cannes-Sieger in Folge geholt, angefangen mit Parasite. Vier davon wurden als "Bester Film" bei den Oscars nominiert, zwei (Parasite und Anora) haben gewonnen.
Joachim Triers im Vorfeld als Favorit gehandelter Sentimental Value, der eine 19-minütige Standing Ovation bei seiner Weltpremiere erhielt, wurde mit dem zweitwichtigsten Preis des Festivals, dem Großen Preis der Jury, ausgezeichnet. Es ist auch der Film, der von allen diesjährigen Cannes-Preisträgern die besten Oscarchancen hat. Auch er wird in den USA von NEON vertrieben.
Eine kleine Sensation gelang dem deutschen Drama In die Sonne schauen von Mascha Schilinski, das als einziger Beitrag Deutschland im diesjährigen Cannes-Wettbewerb lief und zusammen mit Óliver Laxes Sirāt den Preis der Jury erhielt, den man mehr oder weniger mit dem dritten Platz im Wettbewerb gleichsetzen kann.
Der brasilianische Historienthriller The Secret Agent ist der einzige Film im Cannes-Wettbewerb, der mit zwei Preisen ausgezeichnet wurde – für Kleber Mendonça Filhos Regie und Wagner Mouras Performance. "Narcos"-Star Moura könnte für die Rolle seine erste Oscarnominierung erhalten. Als beste Darstellerin wurde Newcomerin Nadia Melliti für dier französische Romanverfilmung Die jüngste Tochter prämiert. Melliti wurde auf der Straße entdeckt und stand vor dem Film noch nie vor der Kamera.
Derweil setzten die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne ihre Erfolgssträhne in Cannes. Das belgische Regie-Duo hat bereits zweimal die Goldene Palme gewonnen. Zehn ihrer Filme liefen in Cannes im Wettbewerb und neun davon wurden mit mindestens einem Preis ausgezeichnet. Ihr jüngstes Drama Young Mothers erhielt dieses Jahr den Drehbuch-Preis der Jury.
Alle Gewinnerinnen und Gewinner der 78. Filmfestspiele von Cannes könnt Ihr unten nachlesen. Ich bin sicher, dass uns mehrere dieser Titel während des Oscar-Rennens Ende des Jahres wieder begegnen werden.
Wettbewerb
Goldene Palme
It Was Just an Accident (Regie: Jafar Panahi)
Großer Preis der Jury
Sentimental Value (Regie: Joachim Trier)
Preis der Jury
Sirāt (Regie: Óliver Laxe) UND In die Sonne schauen (Regie: Mascha Schilinski)
Beste Regie
Kleber Mendonça Filho (The Secret Agent)
Bester Darsteller
Wagner Moura (The Secret Agent)
Beste Darstellerin
Nadia Melliti (Die jüngste Tochter)
Bestes Drehbuch
Jean-Pierre und Luc Dardenne (Young Mothers)
Sonderpreis
Resurrection (Regie: Bi Gan)
Un Certain Regard
Bester Film
The Mysterious Gaze of the Flamingo (Diego Céspedes)
Preis der Jury
A Poet (Regie: Simon Mésa Soto)
Beste Regie
Tarzan und Arab Nasser (Once Upon a Time in Gaza)
Bester Darsteller
Frank Dillane (Urchin)
Beste Darstellerin
Cleo Diára (I Only Rest in the Storm)
Goldene Kamera für besten Debütfilm
The President’s cake (Hasan Hadi)
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Quelle: Festival de Cannes