Mord im Orient Express (2017) Kritik

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Mord im Orient Express, USA 2017 • 114 Min • Regie: Kenneth Branagh • Drehbuch: Michael Green • Mit: Kenneth Branagh, Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Judi Drench, Willem Dafoe, Penélope Cruz, Daisy Ridley, Josh Gad, Leslie Odom Jr., Tom Bateman, Derek Jacobi • Kamera: Haris Zambarloukos • Musik: Patrick Doyle • FSK: ab 12 Jahren • Verleih: 20th Century Fox • Kinostart: 09.11.2017 • Website

Es gibt Filme, die man am liebsten wie ein gutes Buch am gemütlichen Kaminfeuer aufschlagen möchte, um sie bis tief in die Nacht hinein zu genießen. Kenneth Branaghs Mord im Orient Express ist einer dieser Filme. Mit der fünften Filmadaption des Krimiklassikers von Agatha Christie ist dem Regisseur kein perfekter aber durchweg unterhaltsamer und schöner Film gelungen, der das Rad auch nicht neu erfindet, dafür aber eigene Akzente setzt. Und mit diesen liegt Branagh goldrichtig. Sidney Lumets Version von 1974 mit Albert Finney, Ingrid Bergmann und Sean Connery gilt als beste Adaption und wurde sowohl mit sechs Oscar-Nominierungen und einer Auszeichnung geadelt, als auch mit Agatha Christies Zufriedenheit geehrt – Prädikat „besonders wertvoll“ also und damit ein schweres Erbe für Kenneth Branagh. Doch kaum jemand anderes als der Shakespeare-Mime hätte diesem Stoff mit so viel Charme und Liebe einen modernen Anstrich verpassen können. Von erster Minute an hatte ich ein so wohliges Gefühl wie beispielsweise bei seinem vergnügten Viel Lärm um Nichts von 1993. Das liegt nicht nur an der von ihm fantastisch gespielten Hauptfigur. Mord im Orient Express ist kein überflüssiges Remake.

Die Handlung ist schnell umrissen: Nach seinem letzten Fall in Jerusalem, den der Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh) eindrucksvoll gelöst hat, wird der charismatische Belgier mit Schnurrbart nach England beordert. Sein Freund Bouc (Tom Bateman) verschafft ihm im eigentlich vollbesetzten Orient Express einen Platz. An Bord trifft er auf die unterschiedlichsten Passagiere aus aller Welt. Kurz nachdem ihn der zwielichtige Geschäftsmann Edward Ratchett (Johnny Depp) aus Angst vor einem Attentäter, darum bittet, auf ihn aufzupassen, wird er mit zahlreichen Messerstichen ermordet aufgefunden. Poirot, der sich eigentlich nach Ruhe sehnt, nimmt die Ermittlungen auf…

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Einer der neuen Akzente ist die Hauptfigur Monsieur Poirot. Kenneth Branaghs Bühnenpräsenz geht weit über das zu erwartende Maß hinaus und lässt seine Figur sogar mehr hervorstechen als dessen exorbitanter Schnurrbart. Hercule Poirot ist Dreh- und Angelpunkt. Er ist es, mit dem wir am meisten mitfühlen, weil wir als Zuschauer seine elementare Krise und Entwicklung beobachten und nachvollziehen können. Angesichts der emotionalen Hintergrundgeschichte des Täters ist das auf den ersten Blick natürlich etwas überraschend- eigentlich sogar sehr schade. Natürlich reicht es nicht, Poirot bei seiner Arbeit aufmerksam über die Schulter zu schauen. Man muss beobachten können, was der Fall mit der Hauptfigur macht. Aber dabei dürfen die übrigen Charaktere nicht an Profil verlieren. Tatsächlich kriegen nur wenige von ihnen den Spielraum, den sie verdient hätten. Zwar bekommen alle im Drehbuch von Michael Green (Blade Runner 2049, Logan: The Wolverine) ihren glänzenden Moment zugeschrieben. Aber manchmal wirkt dieser wie eine bloße Gelegenheit, die man dazu nutzt, die wichtigsten Stichpunkte des jeweiligen Profils kurz vorzutragen. Branaghs insgesamt tolle Regiearbeit rettet leider auch niemanden. Davon ausgenommen und damit außen vor sind Back To Business-Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley und Josh Gad. Erstere hinterlässt bei mir nach mother! bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr einen bleibenden Eindruck! Johnny Depp als bösartiger Ganove Edward Ratchett wirkt leider etwas unentschlossen.

Wo er als Regisseur nicht ganz überzeugt, leistet Branagh als Schauspieler hingegen grandiose Arbeit. Seine Interpretation des vermutlich größten Detektivs der Welt ist für mich die beste auf ebendieser. Sie beschränkt sich natürlich nicht nur auf die gleichnamige Buchvorlage von 1934, welche allein nicht genug für diese große Rolle hergibt. Kenneth Branagh zeigt uns, was sich der Leser aus zahlreichen Printwerken erschließt. Besonders daran sind zwei Dinge: Zum einen ist es die Tatsache, dass dieser von sich selbst überzeugte und nach Ordnung und Struktur lechzende Detektiv so unglaublich sympathisch und nahbar ist. Egal wie übergenau der anmutige Poirot auf die schiefe Krawatte seines Gegenübers hinweist oder fast schon notorisch nach zwei exakt gleichförmigen gekochten Eiern sucht. Er hat entweder ein Schmunzeln im Gesicht, weil er genau weiß, wie seltsam das auf andere wirkt oder er leidet so niedlich wie Großpapa, wenn Großmama schimpft. Die andere Besonderheit ist schlicht, dass Kenneth Branagh sein überzeugendes Spiel bis zum Schluss durchhält und es schafft, den Zuschauer mitfiebern und mitfühlen zu lassen, wenn dieser außergewöhnliche Fall Hercule Poirot an seine intellektuelle wie emotionale Grenze bringt.

Insbesondere für Kenner der Geschichte oder zumindest deren Auflösung dürfte die Neuverfilmung nicht allzu spannend sein. Durchaus aufregend und clever wie das Original aber nicht so dramatisch wie erhofft. Nicht, dass es der Roman unbedingt gewesen wäre- Krimis funktionieren anders. Aber der offensichtliche Spagat gelingt hier nicht ganz. Der Spannungsbogen ist nicht fest gespannt, wichtige Plotpoints sind kaum zu spüren. Wenn dann aus der ursprünglichen Schneeverwehung, die den Zug zum Halten zwingt, auch noch eine durch einen Blitz ausgelöste Lawine wird, muss man bei der entsprechenden Kamerafahrt schon mit den Augen rollen. Und wo steckt der Zug deswegen fest? Richtig! Mitten auf einer Brücke, den Abgrund stets vor Augen… Dieses bedrohliche Szenario wird selbstverständlich noch für „dramatische“ Szenen genutzt.

Das sind jedoch keine gravierenden Schwächen. Die phänomenale Verkörperung Poirots entschädigt, weil sie genügend Pathos hat, um uns an die Leinwand zu kleben. Der schwere Gang des Ermittlers reißt mit, seine Lektion ergreift. Darüber hinaus sieht jedes Bild in Mord im Orient Express fantastisch aus (in ausgewählten Kinos übrigens auch in 70 mm zu sehen). Die Kamera von Haris Zambarloukos fängt manche Szenen so elegant ein, dass man gar nicht genug davon kriegt. Da wäre zum Beispiel die langsame Fahrt durch das Abteil an den Verdächtigen vorbei. Mit Poirots Augen sehen wir jeden Fahrgast auf seine Ansprache reagieren. Was wird getrunken, wie gestikulieren oder artikulieren die Angesprochenen? Wer fühlt sich überhaupt angesprochen? Nichts entgeht dem Zuschauer. Kenneth Branagh dirigiert in solchen Momenten exzellent und sein hochkarätiger Cast folgt hingebungsvoll.

Tragisch schön ist der Zeitraffer in schwarz-weiß, der den Mord zeigt. Eine Einstellung, die eindeutig auf die gleichartige Rückblende in Lumets Film verweist, diese aber mühelos übertrifft. Sie trifft mitten ins Herz, genauer gesagt. Die emotionale Tragweite, die lange nicht zu greifen war, findet letztendlich doch noch seine Anteilnahme. Überhaupt ist alles, das im tollen Werk von 1974 vielleicht nicht so ganz überzeugte, 2017 so gut realisiert, wie man es sich nur hätte wünschen können. Das Setdesign ist top, der generelle Look ist eine Augenweide. Man geht nicht ins Kino, man steigt in den Orient Express. Zum Finale lässt der Regisseur sogar noch Da Vinci die Figuren in seinem Geiste zusammenrücken. Fantastisch!

Fazit

Kenneth Branaghs Mord im Orient Express ist ein gelungenes Remake mit neuen Akzenten und einem phänomenalen Hercule Poirot, der sich längst nicht nur durch seinen aufdringlichen Schnurrbart von seinen Vorgängern abhebt. Die dramaturgischen Schwächen und die zuweilen einseitige Perspektive nimmt man angesichts der tollen Inszenierung schmunzelnd hin. Es ist höchstens schade, dass sich nicht alle Charaktere entfalten. An dem großartigen Cast, wie dem Setdesign kann man sich kaum sattsehen, die Kamera vermittelt unmittelbar. Dieser Film macht Lust auf einen weiteren mit, und gerne auch wieder von Kenneth Branagh. Das Ende dieses Werks war zumindest schon einmal eine klare Ansage. Es gibt heute nur noch wenig Filme dieser Art und es ist beinahe großartig, wie man diesen Krimiklassiker modern aber stets originaltreu realisiert hat.

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