Der Vorleser (2008)

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The Reader, USA/DE 2008 • 124 Min • Regie: Stephen Daldry • Mit: Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes, Bruno Ganz, Jeanette Hain, Hannah Herzsprung, Karoline Herfurth • FSK: ab 12 Jahren • Kinostart: 26.02.2009

Handlung

Der Vorleser - Filmszene (6)1958, Neustadt, Deutschland: Der fünfzehnjährige Michael Berg strauchelt fiebernd durch den strömenden Regen, flüchtet sich vor dem Unwetter in einen Hauseingang, erbricht sich und sinkt zitternd zusammen. Die 36-jährige Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz findet den Jungen, nimmt sich seiner an und bringt den Kranken zurück nach Hause. Der Scharlach fesselt Michael drei Monate ans Bett, und nachdem er sich wieder erholt hat, sucht er Hanna erneut auf, um sich zu bedanken. Schon bei diesem ersten Besuch entwickelt sich eine ungleiche Liebesbeziehung. Der junge Michael wird von der älteren Frau in die Praxis der körperlichen Liebe eingeführt, emotional hält sie das „Jungchen“ aber weitestgehend auf Distanz. Bald entwickelt es sich außerdem zum Ritual zwischen den beiden, dass Michael Hanna nach oder vor dem Geschlechtsakt vorliest. Die Affäre hält einen Sommer lang, bis Hanna eines Tages ohne eine Spur verschwindet. 1966 trifft Michael, der mittlerweile Jura studiert, Hanna wieder: Als eine Angeklagte in einem Prozess gegen ehemalige KZ-Aufseherinnen, denen vorgeworfen wird, für den Tod von 300 jüdischen Häftlingen verantwortlich zu sein.

Hintergrund

The ReaderDas gleichnamige Buch des Juristen Bernhard Schlinks gehört seit seinem Erscheinen 1995 zum Literaturkanon an den meisten deutschen Schulen und feiert auch weltweit enorme Erfolg. „Der Vorleser“ war schließlich auch das erste deutsche Buch, welches, auch befeuert durch Talkshow-Größe Oprah Winfrey, den Spitzenplatz der Bestseller-Liste der New York Times erklimmen konnte. Dass eine Verfilmung so gut wie beschlossene Sache war, versteht sich von selbst. Dennoch hat es ganze 13 Jahre gedauert, bis sich der Verlag dazu durchringen konnte, eine geeignete Drehbuchfassung und einen entsprechenden Regisseur für das prestigeträchtige Projekt zu finden. Am Ende lag es bei dem Briten David Hare (Buch) und seinem Landsmann Stephen Daldry (Regie), das Projekt in Angriff zu nehmen. Bis zu seinem überraschenden Tod war Sydney Pollack als Produzent mit an Bord. Hare und Daldry arbeiteten bereits bei „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ in der selben Konstellation zusammen. Als Hauptdarstellerin konnte, nachdem Nicole Kidman auf Grund ihrer Schwangerschaft absagen musste, Kate Winslet gewonnen werden. In der Rahmenhandlung in der Gegenwart, die so nicht im Buch vorkommt und eine dramaturgische Klammer für den Film bietet, spielt Ralph Fiennes den erwachsenen Michael. Weitere Rollen sind hauptsächlich mit deutschen Schauspielern besetzt, wie beispielsweise Hannah Herzsprung, Karoline Herfurth oder Bruno Ganz. Die Rolle des jungen Michael übernahm David Kross (Knallhart, Krabat).

Kritik

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Ein wenig ironDer Vorleser - Filmszene (7)isch mutet die Wahl von Kate Winselt für die KZ-Aufseherin Hanna schon an. Schließlich spielte diese, bis dahin für großartige Darstellungen in Filmen wie „Little Children“ oder „Vergiss mein nicht!“ bei Preisverleihungen Übergangene, 2005 in der Comedyserie „Extras“ sich selbst, wie sie verzweifelt versucht, durch die Darstellung einer Nonne im Zweiten Weltkrieg endlich den langersehnten Oscar zu erheischen. „I noticed, if you do a film about the Holocaust, you guaranted to get an Oscar.“

Als sie dann 2008 in „Der Vorleser“ tatsächlich in einem Film über den Holocaust (im weiteren Sinne) mitspielte, musste man die Folge von „Extras“ als vielleicht prophetisch, zumindest aber als unglaublich treffende Satire begreifen. Denn, die Fachpresse überschlug sich geradezu bei ihren Lobeshymnen auf Winslets Spiel. Und ja, Winslet spielt sehr gut. Allerdings auch lange nicht so gut, wie sie es in vorangegangenen Rollen schon gezeigt hatte. Ein wenig hat man, nicht nur wegen ihrer Serienrolle, das Gefühl, mit einem Auge würde die Schauspielgröße bereits in Richtung Preisverleihung schielen. Vor allem aber ist die Fokussierung der Rezensenten auch Merkmal eines der größten Probleme des Filmes.

In Schlinks nüchtern-distanziertem Roman ging es um den jungen Michael und seine, im doppelten Sinne, verlorene Unschuld an das Naziregime. Damit war er zugleich auch Metapher für die Generation derer, denen zwar die „Gnade der späten Geburt“ zuteil wurde, die aber dennoch mit dem moralischen Konflikt zu kämpfen hatten, dass sich eine – ihre – ganze Elterngeneration schuldig gemacht hatte. Im Film wird dieser Schwerpunkt sehr unglücklich verschoben. Es geht viel stärker um Hanna, die durch Umstände und Scham bezüglich ihres Zustandes zum Opfer des nationalsozialistischen Systems umgedeutet wird. Winslets Darstellung in der zweiten Hälfte des Filmes, als gebrochene, hilflose und missverstandene Frau, befeuert diesen Eindruck nur noch. Hier geht es nicht mehr darum, mit vergangener Schuld umzugehen und sich ihrer zu stellen, sondern mehr, um Verständnis und Mitleid für eine arme Täterin zu erzeugen.

Man möchte Daldry natürlich nur die besten Absichten unterstellen, schließlich hat der Filmemacher in der Vergangenheit mit „Billy Eliott – I Will Dance“ und „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ ausgezeichnete Filme vorgelegt und konnte sich nach diesem Ausrutscher mit seinem darauffolgenden Film „Extrem laut und unglaublich nah“ auch wieder fangen. Doch bei diesem Projekt muss man ihm einfach einige, schlicht extrem unglückliche Entscheidungen vorhalten. Michaels Reise in die Vergangenheit und die Konfrontation mit den Schrecken des Holocaust wird als gemütlicher Spaziergang durch ein stillgelegtes Vernichtungslager im Morgengrauen und Postkartenästhetik inszeniert. Als Hanna gegen Ende des Filmes den Freitod wählt, zeigt die Kamera besonders deutlich, wie sie sich die Schuhe auszieht und barfuß auf ihr selbsterichtetes Schafott steigt,während es vorher im Film eine lange Kamerafahrt vorbei an den zurückgelassenen Schuhen der im KZ Ermordeten gab. Eine (ungewollte?) Gleichstellung, die einem schlicht den Atem verschlägt. Michael trifft am Ende des Filmes eine Holocaust-Überlebende. Im Gegensatz zur vereinsamten Hanna, die ihren Lebensabend in einer kargen Zelle verbringen musste, lebt diese in einem prächtigen Apartment. Auch hier wieder Implikationen, die absolut unglücklich sind, bestenfalls.

Der Vorleser - Filmszene (4)Im Laufe des folgenden Gespräches folgt einer der stärksten Sätze des ganzen Filmes: „What are you asking for? Forgiveness for her? Or do you just want to feel better yourself? My advice, go to the theatre, if you want catharsis. Please. Go to literature. Don’t go to the camps. Nothing comes out of the camps. Nothing.“ Und dennoch gesteht Daldry Hanna diese Vergebung in der folgenden Szene zu, wenn ein Erbstück Hannas von der Überlebenden neben ein Photo ihrer ermordeten Familie gestellt wird. In einem Interview auf den Extras der DVD sagt Daldry, „sie geht darauf stolz hinaus und zeigt, dass sie das hinter sich lassen kann“. Auch hier wieder, noble Absichten, die an der Umsetzung scheitern.

Neben diesen inhaltlichen Makeln plagen „Der Vorleser“ noch einige andere, formelle Schwächen. David Kross war zum Zeitpunkt des Dreh ungefähr 17 bis 18 Jahre alt. Auch wenn er vorher bereits in einigen größeren Produktionen erste Schauspielerfahrungen sammeln konnte, merkt man ihm doch an, dass er neben gestandenen Schauspielgrößen wie eben Kate Winslet oft verblasst und manchmal auch schlicht überfordert ist mit der komplexen Rolle, die er zu schultern hat. Dass er die Aufgabe nicht in seiner Muttersprache, sondern auf Englisch bewältigen muss, dürfte ein zusätzliches Problem sein. Überhaupt ist das Sprachgewirr, welches im Film vorherrscht, irritierend. Während alle Hauptfiguren entweder von deutschem Akzent durchsetztes (Kross, Ganz) oder um einen deutschen Akzent bemühtes Englisch (Winslet, Fiennes) sprechen, sind Hintergrundgespräche weiterhin auf deutsch. Und natürlich spielt der Film auch im Nachkriegsdeutschland, und alle Figuren sollen gebürtige, deutsche Muttersprachler sein. Ob man das als „babylonisches Sprachgewirr“, wie es einige Rezensionen taten, oder schlicht als vollkommen inkonsequenten Entscheidung bezeichnet, störend wirkt es dennoch.

The ReaderDavon ab erreicht der Film mit stilistischen Mitteln sein im Stillen erklärtes Ziel vollkommen. Leise und dennoch ebenso pathetische wie betont traurige Musik, ruhige und kühle Bilder und ein Ensemble an Nebenfiguren, die sich gegenseitig dabei zu überbieten versuchen, möglichst nachdenklich und bedrückt drein zu schauen. Alles an der Inszenierung von „Der Vorleser“ ist darauf ausgelegt, wieder und wieder zu betonen, dass der Zuschauer hier etwas Wichtiges und Bedeutungsschwangeres sieht. „Was geschehen ist, war furchtbar, und wir fühlen uns deswegen schlecht“ scheint jede einzelne Szene zu schreien. Was geschehen ist, war schlimm, keine Frage. Ob diese Art der Vergangenheits- und im weiteren Sinne auch Schuldbewältigung aber der richtige ist, sei dahin gestellt. Das Erstarren und zugleich zur schaustellen von Bedauern wird auf Dauer sicher niemanden weiterbringen. Und vor einer Auseinandersetzung mit dem „Warum?“ oder gar einem ersten Gedanken darüber, wie es weitergehen könnte, schreckt die Verfilmung von „Der Vorleser“ zu jeder Zeit zurück.

Fazit

Am Ende bleibt doch lediglich kompetent gemachtes Kitsch-Kino. In seinen Ambitionen vielleicht sogar einst löblich, in seiner Umsetzung hingegen durch und durch kritikwürdig. Die filmische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, nicht nur während des Naziregimes, sondern auch in der Zeit danach, hätte weit mehr Sorgfalt und Differenzierung erfordert, als es die Verfilmung von „Der Vorleser“ bietet. Zu sehr ist Daldrys Film darauf ausgelegt, leicht verdaulich zu sein. Zu einfache „Lösungen“ bietet er an. Zu missglückt ist der verschobene Fokus der Geschichte.

Da ist es dann auch eher bittere Ironie, wenn nicht gar blanker Zynismus, dass „Extras“-Produzent Ricky Gervais bei den Golden Globes 2009 bemerkt: „Well done, Winslet. I told ya, do a holocaust-movie, the awards come, didn’t I?“ Denn schließlich kam es, wie es kommen musste. Nach sechs erfolglosen Anläufen ergatterte Winslet ihren ersten Oscar für ihre Rolle in „Der Vorleser“.

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