
Marvel’s Luke Cage, USA 2018 • Laufzeit: 13 Folgen à 54-69 Min • Regie: Lucy Liu, Andy Goddard, Clark Johnson u. a. • Mit: Mike Colter, Simone Missick, Alfre Woodard, Mustafa Shakir, Theo Rossi, Gabrielle Dennis, Rosario Dawson, Reg E. Cathey • Anbieter: Netflix • Veröffentlichungstermin: 22.06.2018
Enthält leichte Spoiler zu Staffel 2!
Die sozialbewussteste Superheldenserie ist zurück mit ihrer zweiten Staffel, die für mehr als eine Überraschung gut ist.
Was sich vor fast zwei Jahren bei der ersten Staffel von "Marvel’s Luke Cage" zum Nachteil ausgewirkt hat, davon profitiert jetzt die zweite Staffel: die Erwartungshaltung. "Luke Cage" war nach "Daredevil" und "Jessica Jones" die dritte Serie aus dem Marvel-Deal, die Netflix veröffentlicht hat, und obwohl die zweite "Daredevil"-Staffel bereits erste leichte Schwächen zeigte, lag die Messlatte noch sehr hoch. "Daredevil" und "Jessica Jones" begeisterten Kritiker und Zuschauer gleichermaßen mit komplexen Helden, kinotauglicher Inszenierung und zwei der besten Bösewichte aus dem gesamten Marvel Cinematic Universe. Entsprechend waren die Erwartungen an den Nachfolger hoch, erst Recht, weil es auch noch die erste "schwarze" Marvel-Serie werden sollte. Und in gewisser Hinsicht wurden diese auch erfüllt. Wie schon die beiden Vorgänger, hatte "Luke Cage" einen ganz eigenen Stil. In dem von Rassenspannungen immer noch geprägten Land, positionierte sich "Luke Cage" stolz als eine Milieustudie mit reichlich Neo-Blaxploitation-Flair und einem der besten Serien-Soundtracks der jüngsten Fernsehgeschichte. Nachdem er bereits bei "Jessica Jones" seinen Einstand feierte, machte Mike Colter als Luke in seiner eigenen Serie als widerwilliger Straßenheld eine gute Figur.

Konnte man damals noch hoffen, dass diese zweite Staffelhälfte nur ein Ausrutscher war, wurde man leider eines Besseren belehrt. Die Marvel-Serien von Netflix haben nie wieder zu ihrer anfänglichen Größe zurückgefunden. "Iron Fist" hat zwar nicht den ganzen Hass verdient, der auf die Serie niederprasselte, und war zumindest kurzweiliger (wenn auch technisch schwächer) als "Luke Cage", doch besonders gut war die Serie auch nicht. "The Defenders" folgte dem "Luke Cage"-Muster und implodierte in der zweiten Hälfte. "The Punisher" litt ebenfalls unter enormen Längen und die Rückkehr von Jessica Jones war zwar definitiv sehenswert, erreichte aber auch nie die Vorgängerstaffel. Daher ist es nur gut nachvollziehbar, dass sich meine Vorfreude auf die Fortführung der zähesten Serie des Netflix-Subuniversums von Marvel in Grenzen hielt. Umso erfreulicher ist es zu berichten, dass meine Erwartungen nicht nur übertroffen wurden, sondern dass Showrunner Cheo Hodari Coker mich mit der Entwicklung, die die Staffel einschlägt und konsequent zu Ende führt, aufrichtig überrascht hat.




Er ist nicht der Einzige. Der Polizei ist Luke trotz seiner vielen Heldentaten ein Dorn im Auge, denn er untergräbt ihre Autorität und agiert ohne jegliche Befugnis außerhalb des Gesetzes. Als Zuschauer von Superheldenfilmen oder -Serien ist man daran längst gewöhnt und hinterfragt es selten, doch "Luke Cage" unternimmt ernsthafte Bemühungen, sich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, diese Kraft zu haben und sie eigenmächtig einzusetzen. Luke muss sich diese Frage selbst stellen und die Antworten, die er und die Zuschauer dabei finden, sind nicht unbedingt die, die man erwartet. Von Versuchungen der Macht, die ihr ihre Position erlaubt, bleibt auch Misty nicht unberührt. Für alle Hauptfiguren der Staffel gilt letztlich das Fazit, dass der Pfad zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Manche verschließen davor die Augen, andere akzeptieren es und machen weiter.

So viel Charakterarbeit geht selbstverständlich auf Kosten des Tempos, und wer sich bei "Luke Cage" ein Action-Feuerwerk erhofft, wird enttäuscht sein. Geduld wird jedoch belohnt. Noch viel mehr als bei "Daredevil" oder "Jessica Jones" haben kleinere und größere Ereignisse aus der ersten Staffel unmittelbare Auswirkungen auf die zweite und lassen die erste rückblickend etwas besser aussehen, indem man sie als nötiges Fundament ansieht. Andererseits schafft es die zweite Staffel, in ihrer Struktur ganz anders zu sein als die erste. Diesmal fängt es sehr langsam an und nach den ersten Folgen befürchtete ich noch das Schneckentempo der ersten Staffel. Doch ohne den missratenen Bruch in der Staffelmitte, nimmt die neue Season ab Folge 7 deutlich an Fahrt auf und legt einen fantastischen, mitreißenden Sprint auf ein regelrecht episches Finale hin. Nachdem alle Spielfiguren sorgfältig in Position gebracht wurden, entlädt sich die gesamte Vorarbeit in der zweiten Staffelhälfte in einem Strudel der Gewalt, Vergeltung und unerwarteten Bündnisse. "Luke Cage" wird dann zu einem reinblütigen Gangsterepos, das im dritten Akt zur wahren Größe findet. Ohne zu viel zu verraten: die letzte Einstellung der Staffel ist perfekt und wirkt bei vielen Fans lange nachwirken.
Die meisten der Actionsequenzen sind allerdings nicht sehr aufregend, da Luke durch die Natur seiner Kräfte keine besondere Kampftechnik braucht, sondern einfach wie ein Bulldozer über seine Gegner hinwegrollt. Eine Ausnahme bilden jedoch die zahlreichen Konfrontationen zwischen Luke und Bushmaster. Mit imposant durchtrainiertem Körper, Capoeira und etwas Doping-Hilfe ist er ein würdiger Gegner, und unser kugelsicherer Held muss lernen, richtig einzustecken.
In puncto Atmosphäre, Flair und Musik steht die zweite Staffel der ersten in nichts nach und kann sie sogar teilweise übertreffen. Cheo Hodari Cokers Vergangenheit als Musikjournalist kommt stark zur Geltung. Nicht nur ist jede Folge nach einem Song des Hip-Hop-Duos Pete Rock & CL Smooth benannt, die Staffel umfasst eine großartige Auswahl an Rapsongs, aber auch Jazz und Reggae. Gerade letztere tragen mit Songs von Max Romeo, Gregory Isaacs ("Night Nurse" im perfekten Moment!) und einem Live-Auftritt von Stephen Marley sehr viel zur Atmosphäre bei, die stark durch die jamaikanische Präsenz in der Staffel geprägt ist. Die jamaikanische Kreolsprache, die von Bushmaster und seinen Leuten (zumindest in der Originalfassung) gesprochen wird, spielt auch eine große Rolle. Um Untertitel werden sogar Muttersprachler nicht herumkommen, doch die Sprache macht so viel von diesen Figuren aus, dass die Originalversion ein Muss ist. Außerdem habe ich jetzt mit "rassclaat" ein neues Lieblings-Schimpfwort!

Diverse Längen in der ersten Staffelhälfte halten mich davon ab, der Staffel das Meisterwerk-Label zu verpassen, auch wenn es ihre letzten Folgen definitiv verdienen. In der Bemühung, weiterhin die mit Abstand zeitgemäßeste Superheldenserie zu bleiben ("Ich bin ein schwarzer Mann in einem Hoodie. Menschen hatten schon immer Angst vor mir," sagt Luke in einer Schlüsselszene), macht Luke Cage sehr viele Fässer auf – Rassismus, Immigration, Ausgrenzung, Sexualität, Missbrauch, Korruption, Traumaverarbeitung und Familienkonflikte. Es ist ein nobles Unterfangen und Vieles davon wird auch passend untergebracht, doch es ist auch zu viel des Guten. Einige Handlungsstränge, wie beispielsweise Mistys Rivalität mit einer neuen Kollegin, hätte die Staffel problemlos verlieren können. Auch verlässt sich die Serie immer wieder auf Zufälle und bequeme Geografie. Klar, Harlem ist nicht so groß wie Manhattan, dass Luke Cage jedoch immer in letzter Sekunde dort auftaucht, wo es gerade brenzlig wird, und den Tag rettet, lässt einen hinterfragen, ob man Superschnelligkeit als Kraft unterschlagen hat. Außerdem wundert man sich, weshalb Mariahs Klub Harlem’s Paradise immer wieder rappelvoll ist, obwohl dort augenscheinlich mehr Morde geschehen als in brasilianischen Favelas.
Die größte Leistung der Staffel ist es, wie sie das Beste aus der ersten Season mit den neuen Geschichten zusammenbringt, nach einem langsamen Start die Kurve bekommt und auf ein furioses Ende hin aufbaut, das einerseits geradezu nach einer neuen Staffel bettelt, mich andererseits befürchten lässt, dass es ab jetzt nur noch schwächer werden kann. Aber ich lasse mich gerne (wieder) überraschen.
https://youtu.be/EQUji6EkZCY








