Filmfutter auf der Berlinale 2014 – Teil 1

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Berlinale 2014 Teil 1

„Wo Kunst ist, gibt es keinen Wahnsinn.“ Schade, dass das hier kein Film ist. Sonst wäre das die perfekte bedeutungsvolle Eröffnungsphrase, dieser erste Satz meines ersten Films der diesjährigen Berlinale. Sie ist meine fünfte, was heißt, dass ich in Zukunft eine Top Five der Berlinalen erstellen kann. Von jährlichen Veranstaltungen eine Top Five zu haben, signalisiert anderen, dass man quasi schon ewig dabei ist und alles gesehen hat. Aber das hat man nie, besonders auf Filmfestivals. Ein Filmfestival, auf dem man alles zu sehen schafft, kann ich nicht ernst nehmen. Allein der Versuch alles Relevante zu sehen, ist auf der Berlinale Wahnsinn. Und wenn man Kritiker ist, hat er meist Methode. Um sie zu wahren, folgt ein Überblick der Festival-Sektionen

Wettbewerb – Gerüchten zufolge läuft der Sieger meist in der frühesten Pressscreening-Schiene.

Berlinale Shorts – Danach Handykamera rausholen und rufen: „Nächstes Jahr läuft hier meiner!“

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Panorama – Alles, was fest auf einen regulären Kinostart hofft. Manchmal vergeblich – zum Glück.

Forum – Alles, was kaum an einen regulären Kinostart glaubt. Meistens zu Recht – leider.

Generation – Filme über Kinder mit Kindern für Kinder. Von Erwachsenen.

Perspektive Deutsches Kino – Für alle, die nach Til Schweiger nur trübe Aussichten haben.

Berlinale Special – Ganz ehrlich? Das kommt bald sowieso regulär ins Kino oder auf DVD.

Retrospektive – Dieser Film, den man schon so lange mal sehen wollte. Aber irgendwie ist nie Zeit

Hommage – Respekt, Alter! Darum laufen hier jetzt die krassesten deiner Filme.

Kulinarisches Kino – Die Gourmet-Edelversion von zu Hause vorm Fernseher essen.

Berlinale Goes Kiez – Warum sonst sollte jemand freiwillig nach Berlin-Friedrichshagen fahren?

NATIVe – Wer „Apocalypto“ mochte, sollte das unbedingt sehen: als Gegengift.

Die Rezensionen sollen einen Einblick in alle Sektionen liefern und idealerweise zugleich einen Ausblick: auf die Entwicklung der internationalen Filmlandschaft und jenseits der eigenen cineastischen Comfort Zone.

 

Jedem der Protagonisten, um die Robert Lepage seine fragmentierte Dreierkonstellation absteckt, gehört ein Akt von Triptyque. Der frankokanadische Theater- und Filmregisseur, der sich für seinen Berlinale Panorama Beitrag mit dem preisgekrönten Filmemacher Pedro Pires zusammen tat, widmet seinen kinematischen Triptychon einem Trio auf unterschiedliche Art um Worte Ringender.

Berlinale 2014 Teil 1 - TriptyqueDie abgelebte Antiquarin Michelle sucht nach wiederholten Aufenthalten in der Psychiatrie nach den Versen, mit denen sie einst ihre Notizbücher füllte. Ihre fürsorgliche Schwester Marie, die nach einer Hirnoperation an Wortfindungsstörungen und Amnesie leidet, versucht mit ihrer Singstimme auch die vergessene Stimme ihres verstorbenen Vaters wiederzuerlangen. Von wissenschaftlichem Ansatz bestimmt ist wiederum der Kampf des Hirnchirurgen Thomas um das Sprachvermögen seiner Patienten, unter denen auch Marie ist. Der Eingriff an ihr, die unter Lokalnarkose bewusst das Schwinden ihrer Sprachsicherheit erlebt, ist der eindringlichste Moment des stilisierten Dramas. Weniger aufgrund der anatomischen Anschaulichkeit als des unmittelbaren seelischen Schmerzes, den die Sängerin Marie im Augenblick des Sprachverlusts erlebt. Die wahren Tragödien von Lepages und Pires Theateradaption sind still. Mehr noch: die Tragödien sind die Stille, sei sie psychischer, physischer oder emotionaler Natur. Jedes Schreibheft, das die Schwester ihr schenkt, vergegenwärtigt Michelle ihre durch die Medikation verstärkte Gefühlstaubheit, die sie am Dichten hindert. Nach dem mühsamen Wiedererlernen des Sprechens versucht Marie im Tonstudio, wo sie kleine Aufträge als Synchronsprecherin hat, zu einer alten Familienaufnahme die Stimme ihres Vaters einsprechen zu lassen. Thomas wiederum hat seiner Partnerin Ada nichts mehr zu sagen und kann seine Hände im Operationssaal wegen eines Tremors nicht mehr sprechen lassen. Die entsättigten Farben unterstreichen das Verblassen der Erinnerung, die fließende Bildsprache die Unbeständigkeit der Gefühle. Ihre Intensität vermittelt sich vor allem durch das eindringliche Spiel Lise Castanguays als Michelle und Frederike Bedards als Marie. Ins Prätentiöse driftenden Dialoge hingegen schaffen eine Ambivalenz zwischen Emotionalität und Sentimentalität, die Maries Gespräch mit einer Lippenleserin spiegelt: „Es ist banal.“ „Es ist das Leben.“

2/ 5 Sterne

 

Leben sprüht aus nahezu jedem der Bilder, mit denen Michel Gondry im Berlinale Panorama die Frage Is the Man Who is Tall Happy? stellt. Im Zentrum der Dokumentation steht der nach außen hin so gesetzte Linguist und Philosoph Noam Chomsky, der ebenso für seine wissenschaftlichen Werke wie sein politisches Engagement sowie seine scharfsinnige Kritik an Globalisierung und US-amerikanischer Außenpolitik bekannt ist. „Die Natur ist einfach.“, erklärt der alte Mann, den man in ironischer Referenz an sein sprachwissenschaftliches Hauptforschungsgebiet oft nur hört, ohne ihn zu sehen. „Es ist die Aufgabe des Wissenschaftlers zu zeigen, dass sie einfach ist. Und wenn uns das nicht gelingt, versagen wir als Wissenschaftler.“

Berlinale 2014 Teil 1 - Is the Man Who is Tall happy?Aus dieser Perspektive betrachtet ist die biografische Wissenschaft, die Gondrys von impulsiven Handzeichnungen vorangetriebenes Werk trotz seiner überbordenden Exzentrik und Verspieltheit ist, eine Niederlage. Das Menschenbild, das aus dem farb- und formbegeisterten Cut-up-Biopic entsteht, ist kein gradliniges Porträt. Viel mehr ist es eine Collage, die kohärente Lebensereignisse, wie man sie im Werdegang eines Intellektuellen von Chomskys Renommee erwartet, zu scheinbar widersprüchlichen Aspekten (Chomskys Interesse für Isaac Newtons okkulten Studien um Apokalypse und Alchemie) in Kontrast setzt. Ausdrucksfreiheit ist ein kostbares Gut, das mit aller Kraft verteidigt werden muss, hat Noam Chomskys im Laufe seines Lebens immer wieder betont. Nicht zuletzt deshalb ist die Flut an Eindrücken eine überraschend adäquate Auseinandersetzung, nicht nur mit dem Protagonisten, sondern mit dem gängigen Konzept der Personenreportage. Deren spezifische Eigenheiten treibt der an den experimentierfreudigen Stil seiner Musikvideos und Werbeclips anknüpfende Regisseur auf die Spitze. Diese weiß er seinen ans Kindische grenzenden Geistesblitzen durch humorvoll gebrochene Verwunderung wieder zu nehmen. Inszenatorisch und erzählerisch gleichermaßen abwechslungsreich, resultiert daraus eine dynamische Disputation mit einer unangepassten Persönlichkeit, die konventionelle Annäherungsweisen wohl nur unzureichend darstellen könnten.