
Die Läden sind geschlossen, die Straßen leer – es ist Sonntag und doch tummeln sich die Leute am Potsdamer Platz in Berlin, um Filme zu schauen. Mit bereits eingeschränkten Kraftreserven und ganz viel Kaffee geht es am vierten Tag zum ersten Mal in die Sektion Retrospektive, um sich dem vollen Genuss der 35mm-Projektion hinzugeben und anschließend den Wettbewerb erkunden.
Teil 4

Um dem Frust über diesen von Dreck, Gewalt und Rassismus durchzogenen Polizeistaat von Welt zu entkommen, greifen so einige zu den Ciberdiscs wie zu Drogen. Auch Lenny flieht, in seinem Falle in sonnendurchflutete Erinnerungen, wo er mit seiner mittlerweile Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis) auf Rollerblades am Strand entlangfährt. Die Thematisierung des technologisch verschuldeten Realitätsverlusts wirkt im Gegensatz zu ihrer Form zugegebenermaßen heute schon wieder etwas verbraucht und Lennys Beziehung zu Faith als emotionaler Kern der Geschichte mit dieser Szene als Fundament zu instabil. Spannendender ist da, in was für einer Skrupellosigkeit die Menschen drumherum ihre Wut katalysieren. Der Plot begibt sich auf die Suche nach gleich zwei Killern, an dessen Spur aus aufgezeichneten Verbrechen sich Lenny und seine Freundin Lornette (Angela Bassett) entlanghangeln. Ein brutaler Vergewaltiger zentralisiert das Unheil der Ciberdiscs, der Mord an einem bedeutenden schwarzen Musiker, der sich gegen den Rassismus und die Polizeigewalt einsetzt, die politische Situation. Letzterem Kommentar spendiert das Drehbuch im etwas zu action- und twistüberladenen Finale einen pathetischen Hoffnungsschimmer zwischen Konfetti und Gewalt der Silvesternacht zur Jahrtausendwende. Im Kontext der heutigen Lage und Dokumentationen wie Der 13. und I Am Not Your Negro wirkt das traurigerweise ernüchternd.
3,5/5 Sterne

Etwas später wird mit Schulkamerad Erich (Georg Friedrich) eine Gruppierung der Verstoßenen gebildet, anschließend die Wilde Maus mit Drama-Spiegelung im Eigenheim und globalen Problemen in den Nachrichten kontrastiert. Josef Hader lässt den Zuschauer schon längst lachen, bis sich Georg halbnackt im Regen stehend, blamieren und seine Lächerlichkeit eingestehen muss. Durch Haders charakterbezogene Regie, die Ballast abwirft und Umstände prägnant formuliert, wird seine Hauptfigur trotz komödiantischer Konnotation nicht zur Karikatur.
3,5/Sterne
"Warum hast du ihn nie besucht?", fragt Luis (Tristan Göbel) seinen Vater Michael (Georg Friedrich) über dessen Vater aus. Wie so oft in Thomas Arslans (Gold) Helle Nächte wird eine Antwort von Schweigen übertönt. Es ist ein Schweigen, das von generationsübergreifender Entfremdung erzählt, von einer Kommunikation, die nicht nur verbal dysfunktional ist. Als Michaels Vater stirbt, begibt er sich zusammen mit seinem Sohn in die vernebelten, ungewissen Berglandschaften Norwegens und damit auf die Suche nach einem verlorenen Vater-Sohn-Verhältnis im doppelten Sinne. In langen Einstellungen folgt Arslan seinen Charakteren auf einer nachdenklichen Wanderung mit zarten Annäherungsversuchen und verirrten Blicken. Kein kathartisches Erlebnis steht am Ende dieses zurückgenommenen Road-Movies, es bleibt eine ungewisse Reise durch dichten Nebel.
Formal ist Arslans Film ein fast schon hypnotischer Aufarbeitungsprozess, inhaltlich fällt er aber schnell flach. Obwohl Helle Nächte immer wieder potente Situationen entwirft, durch die Eltern-Kind-Beziehungen universell erkundet werden könnten, wendet sich das Drehbuch oft von ihnen ab und breitet die eigene individuelle Beziehung zwischen Luis und Michael in wortkargen, atmosphärischen Bildern aus. Georg Friedrich kann seiner Figur noch eine gewisse Zerrissenheit abgewinnen, Tristan Göbel (Tschick) hingegen kann mit seiner starren Miene nicht das aufgewühlte Innenleben seines Charakters evozieren.
2,5/5 Sterne
Hier geht es zu den bisherigen Berichten:
Filmfutter auf der Berlinale 2017 – Teil 1









