Zumindest etwas ausgeschlafener als am Vortag ging es wieder die gleiche Strecke mit der U-Bahn zum Potsdamer Platz und dort ins Hyatt-Hotel in eine chaotisch arrangierte Schlange vor dem Presse-Ticket-Schalter. Um kurz nach halb Acht bekam ich glücklich ein Ticket für meine erste Retrospektive-Vorstellung ausgehändigt (das nur mal aus kleiner Teaser für den nächsten Teil). Kurz danach stand schon die erste Pressevorführung an. Zum Frühstück gab es Verstörung.
In einem in bleiches, ekliges Rosa getauchten Zimmer, das mit Möbeln eingerichtet ist, die aussehen, als wären sie einmal in einem Wes-Anderson-Film benutzt worden und danach jahrelang im Lager eines Second-Hand-Shops eingestaubt, stellt eine ältere, üppige nackte Frau einem Mann die Angebote an Menschen auf, mit denen er im Hinterzimmer seinen Trieben nachgehen kann. Nach einem Auswahl-Fotobuch mit kleinen Jungen und einem mit deformierten Menschen schlägt sie ihm die junge Laura vor. Die Kamera fliegt förmlich durch den Raum, als diese den Raum betritt und anfängt zu singen, bevor sie dem zu Tränen gerührten Mann ins Zimmer folgt. Dort weint auch sie, Tränen bleiben jedoch aus, denn Laura hat keine Augen. Eduardo Casanovas verstörendes Drama ist durchzogen vom Absurden und Melodramatischen und so unangenehm wie das eine lange Haar, das dem Gegenüber aus der Warze wächst und die gesamte Aufmerksamkeit beansprucht. 77 Minuten, in den man sich so unwohl in seiner eigenen Haut fühlt wie die auf verschiedene Arten unangepassten Charaktere , denen Casanova folgt, in ihrer.
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Bei nahezu allen Charakteren drückt sich diese Unangepasstheit äußerlich aus: Die einsame Prostituierte Laura (Macarena Gómez) hat keine Augen, die von Ernesto (Secun de la Rosa) nur auf Grund ihrer optischen "Reize" fetischisierte Ana (Candela Peña) hängt ein Geschwür über das halbe Gesicht. Zu den normaleren Beispielen gehört die Übergewichtige Itziar (Itziar Castro), zu den absurderen die introvertierte Samantha (Ana Polvorosa), bei der Anus und Mund vertauscht sind. Bierernst nimmt sich das natürlich nicht und ungläubige Lacher entweichen den Zuschauern wie ein unkontrollierter Furz aus Samanthas Anus-Mund, seine Figuren schlicht denunzieren tut der Film aber keinesfalls. Auch in Casanovas Film dürfen die Leidenden neue Stärken aus ihrem Schmerz entwickeln. Die dramatischen Elemente sind jedoch oft nur auf Grund ihrer absurden Form interessant. Wenn das Drehbuch zwischendurch verhältnismäßig normale Passagen runterleiert, offenbaren sich die Schwächen von Skins und ihm geht die Ironie verloren, aus der stumpfe Expositionsszenen und melodramatischer Kitsch ihren Unterhaltungswert ziehen.
Im 4. Kapitel von Heinz Emigholz' Streetscape-Reihe wird es persönlich. Auch wenn er, wie er selbst sagt, der verbalen Sprache weniger vertraut, besteht sein autobiographischer Film aus einem einzigen fortlaufenden Dialog. Durch eine lose Einteilung in Wochentage zusammengehalten springen John Erdman als Filmregisseur und Jonathan Perel als Analytiker in einem assoziativen Fluss durch die verschiedensten architektonischen Werke Berlins und Urugays. Neben dem selbstreflektiven Dauergespräch über Emigholz' persönliches Leben, seine Philosophie über das Filmemachen und die Verbindung zwischen beidem stehen die poetischen Aufnahmen der Bauwerke und Umgebung. Aus den natürlichen Umgebungsgeräuschen entwickelt sich eine eigene meditative Melodie. Dialog und Bild funktionieren in Streetscapes [Dialogue] ergänzend und getrennt voneinander. Die Hallen, Treppen, Wände erzeugen ein ganz eigenes Stimmungsbild, dasndurch das Gesprochene aber noch um zusätzlich Ebenen erweitert und zum Subtext für den Dialog wird. Dieser wiederum beschreibt in seinem abstrakten Duktus oft eher eine Suche nach dem, was Emigholz eigentlich ausdrücken möchte und was durch die visuelle Eben vervollständigt wird.
Aufrichtig und nachdenklich öffnet sich der Filmemacher dem Analytiker, um bewusst eine "Selbstvergiftung" zu abzuwenden, wie Perels Figur es nennt. Denn ein Bewusstsein über sich selbst zu erlangen, ist ein Akt der Psychoanalyse. Jede Erkenntnis und jeder Gedankensatz, den die beiden herausarbeiten, ist gleichzeitig ein Aussage über die Person Heinz Emigholz und über das Filmemachen. Die Grenzen sind dabei so unklar wie die zwischen Dokumentation und Inszenierung bei diesem Film. Klare Aussagen bleiben aus, Antworten müssen wir schon selbst finden. In der ersten Szene des Films baut der Analytiker einen Autounfall, steigt aus und geht. "Do you think we should stop now?"
Schon die Titelsequenz von Oren Movermans (The Messenger – Die letzte Nachricht) Romanadaption The Dinner suggeriert, dass besagtes Dinner unter keinem guten Stern steht. Wie ernst die Situation allerdings ist, lässt der Film lange im Hintergrund. Wenn die Stimmung am Tisch eines feinen Restaurants zu einem späteren Zeitpunkt im Film endgültig dahin ist, blicken sich dort vier geplagte Gesichter an: Der Kongressabgeordnete Stan (Richard Gere), seine jüngere Frau Katelyn (Rebecca Hall), Stans Bruder Paul (Steve Coogan) und dessen Frau Claire (Laura Linney). Bis dahin wandelt sich der Film von einem schwarzhumorigen Familiendrama zu einer bösen Gesellschaftskritik, unterbrochen durch unzählige Flashbacks. Als Aperitif serviert Moverman noch ein schwarzhumoriges Familiendrama, als Digestif eine böse Gesellschaftskritik. "We’re gonna talk tonight", sagt Richard Gere und es klingt fast wie eine Drohung.
Mit jedem Gang tut sich ein weiterer Abgrund auf, die dauernden Exposition liefernden Rückblicke wirken jedoch wie geschmacklich unpassende Zwischenmahlzeiten und machen The Dinner zu einem wirren Film, der viel vom Themen-Kuchen anschneidet und probiert, aber wenig aufisst (Wow, die Berlinale hinterlässt offensichtlich ihre ersten Spuren). Würde man diese Allegorie fortführen, müsste man Oren Moverman wohl vorwerfen, dass die Augen größer als der Magen waren. Zumindest in den großen Leitthemen trifft er ein paar interessante Aussagen über die faschistische Ader der privilegierten weißen Mittel- und Oberschicht. Auch wenn sich sonst durch eine menge Plattitüden geredet wird, kann das Star-Ensemble und dabei allen voran Steve Coogan, der seinem komplizierten Charakter in einer brodelnden Tragik verkörpert, The Dinner knapp über ein solides Mittelmaß heben.
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