Aufgrund der deutlich kleineren, sich jährlich wechselnden Jury und der damit einhergehenden idiosynkratischen Entscheidungen, sind die Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen von Cannes deutlich schwerer vorherzusagen als die jährlichen Oscarpreisträger, die gewissen, sich über Jahrzehnte herausgebildeten Mustern und Regeln folgen. Doch auch gemessen an der relativen Unvorhersehbarkeit von Cannes, ist der diesjährige Gewinner eine wirkliche Überraschung, mit der kaum jemand gerechnet hat. Die Jury um die Brüder Joel und Ethan Coen (die ihrerseits den Preis 1991 für Barton Fink gewonnen haben), der u. a. auch die Schauspielerinnen Sophie Marceau und Sienna Miller angehören, vergaben den Hauptpreis an Jacques Audiards Flüchtlingsdrama Dheepan. Der französische Film handelt von drei tamilischen Flüchtlingen, die vor dem Krieg in Sri Lanka fliehen. In den Banlieues von Paris erwarten sie ebenfalls ein hartes Leben und ein Überlebenskampf. Es ist das zweite Mal in drei Jahren, dass die Palme d’Or an Frankreich geht. Nachdem die letzten beiden Gewinner, Blau ist eine warme Farbe und Winterschlaf epische Laufzeiten von 180 und 196 aufwiesen, läuft Dheepan stramme 109 Minuten. Das zeitige Thema des Films, heute relevanter denn je, hat sicherlich auch eine Rolle beim Triumph gespielt.
Audiard ist kein Neuling in Cannes. Bereits 1996 gewann er mit Das Leben: Eine Lüge den Drehbuchpreis und 2009 mit Ein Prophet den Großen Preis der Jury, der gemeinhin als silberne Medaille in Cannes gilt (die Goldene Palme ging damals an Michael Hanekes Das weiße Band). Auch sein Drama Der Geschmack von Rost und Knochen lief im Wettbewerb. Nichtsdestotrotz hat man nicht damit gerechnet, dass sein größter Sieg ausgerechnet dieses Jahr erfolgen würde. Im Vorfeld bildete sich der Konsens zwischen drei Favoriten: Hou Hsiao-hsiens Martial-Arts-Epos The Assassin, Todd Haynes' lesbischem Drama Carol und László Nemes' Erstlingswerk Son of Saul. Alle drei erhielten schwärmende Rezensionen. Noch vor dem Start des Festivals habe ich auf Son of Saul allein aufgrund seiner Holocaust-Thematik (Mann wird gezwungen in Auschwitz Leichen zu verbrennen) als Hauptsieger getippt und lag nur knapp daneben. Der Film erhielt den Großen Preis der Jury und belegte damit gewissermaßen den zweiten Platz im Rennen. Einen Tag davor wurde Son of Saul auch der FIPRESCI-Preis verliehen, die Auszeichnung der internationalen Filmpresse. Sowohl Dheepan als auch Son of Saul werden höchstwahrscheinlich eine Rolle beim nächsten Rennen um den Auslandsoscar spielen.
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Auch die anderen beiden Favoriten gingen nicht leer aus. The Assassin, Hsia-hsiens sechster Cannes-Wettbewerbsbeitrag, gewann den Preis für "Beste Regie" und damit vermutlich für den stärksten Aspekt des Films. Carol überraschte hingegen mit einem Sieg für Rooney Mara als "Beste Darstellerin", während die meisten mit einer Auszeichnung für ihre Kollegin aus dem Film, Cate Blanchett, gerechnet haben. Beim Oscar-Rennen werden sowohl Mara als auch Blanchett auf jeden Fall mitmischen und ich bin gespannt, ob das Studio sich trauen wird, beide als "Hauptdarstellerin" zu pushen. Mara muss sich den Preis mit der Französin Emmanuelle Bercot teilen, die in der gleichen Kategorie für Maïwenns Mon roi ausgezeichnet wurde. Der Darstellerpreis ging an Vincent Lindon für The Measure of a Man, der ihn mit einer rührenden, tränenreichen Rede entgegennahm. Damit haben die Franzosen dieses Jahr besonders gut abgeschnitten.
Trotz fast durchweg positiver Kritiken ging Denis Villeneuves Thriller Sicario mit Emily Blunt und Benicio del Toro leer aus. Ich glaube aber fest daran, dass Villeneuves Stunde noch kommen wird, sei es bei den Oscars oder einem großen Filmfestival. Mit Sicario hat er abermals bewiesen, dass er zu den größten neuen Talenten der Filmfabrik gehört.
In der Rubrik "Un certain regard" wurde die isländische Komödie Rams von Grímur Hákonarson ausgezeichnet.
Unten könnt Ihr alle Sieger aus dem Wettbewerb auf einen Blick sehen:
Goldene Palme
Dheepan
Großer Preis der Jury
Son of Saul
Bester Hauptdarsteller
Vincent Lindon (The Measure of a Man)
Beste Hauptdarstellerin
Rooney Mara (Carol) UND Emmanuelle Bercot (Mon roi)
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